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IGNORANZ UND ABWERTUNGEN SCHMERZEN
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Ein Erfahrungsbericht über erlebte Stigmatisierung
Claudia Bunzel - 29.03.2024
Die stärkste Stigmatisierung war die, die ich mir selbst antat, dicht gefolgt von meinen Erlebnissen im Gesundheitssystem. Doch fangen wir am Anfang und damit bei meiner Familie an.
Meine Eltern unterstützten mich bei der Therapeuten- und der späteren Kliniksuche, als die Magersucht mit 15 Jahren nicht mehr zu übersehen war. Die männlichen Familienmitglieder reagierten ansonsten vielfach mit Unverständnis und Hilflosigkeit. Zuweilen wurden mir Sätze wie „Du tyrannisierst uns“ oder “Du bist verrückt“ im privaten Umfeld an den Kopf geworfen. Mehrere über Jahre enge Freundschaften wurden aufgrund meiner psychischen Probleme im Verlauf meines Lebens sehr abrupt beendet. Die Verhaltensweisen, die für die jeweiligen Personen nicht mehr tragbar waren, variierten. Was wirklich dahinter stand, konnte ich aufgrund des kurzfristigen radikalen Kontaktabbruchs kaum herausfinden.
In der Schule gab es keinerlei Reaktion auf meinen schwindenden Körper, meinen sozialen Rückzug und die dreimonatige Abwesenheit in der 10. Klasse aufgrund eines Klinikaufenthalts. Lediglich in Mathematik bekam ich eine schlechtere Note als es meinen Klausurleistungen entsprach. Begründung war meine Fehlzeit und eine einzige dadurch verpasste Klassenarbeit. Überraschend war das alles nicht, hatte angeblich auch schon niemand das Mobbing drei Jahre zuvor wahrgenommen. Erst nach meinem Suizidversuch folgten auf Drängen meiner Eltern Reaktionen, die die Mobbingsituation beendeten, um dann wieder zum leistungsorientierten Schulalltag überzugehen.
Während ich mit 14 im Krankenhaus noch auf mitfühlendes Personal traf, spürte ich mit Mitte zwanzig zunehmend genervte, gleichgültige und ablehnende Reaktionen bezüglich meiner Suizidalität und selbstverletzendem Verhaltens vor allem seitens des Pflegepersonals. Auch hier war keine Reaktion die häufigste Variante. Als ich ein zweites Mal mit einer Intoxikation in der Notaufnahme landete, kommentierte die Krankenschwester unser Wiedersehen mit Augenverdrehen. Aber es gab auch mitfühlende und zugleich hilflos wirkende junge Ärzt*innen auf der Intensivstation. Schon während eines Praktikums in der Suchtmedizin im Rahmen des Medizinstudiums hatte ich zu spüren bekommen, dass Borderline eine Diagnose ist, die sogleich bei vielen Fachkräften eine Reihe von negativen Zuschreibungen gegenüber den Patient*innen hervorrief und über die am häufigsten abwertend gesprochen wurde. So hielt ich mich tunlichst zurück, meine eigene Betroffenheit von psychischen Problemen zu zeigen. Erniedrigend war es, mir in noch psychisch labiler Verfassung vom Chefarzt einer Psychosomatik vorhalten zu lassen, was ich mit dem eine Woche zuvor begangenen Suizidversuch meinen Mitpatientinnen antue, als hätte ich mutwillig eine Straftat begangen. Anschließend musste ich mich dann vor versammeltem Stationsteam rechtfertigen, warum sie mich trotzdem wieder aufnehmen sollten. Es blieb bei ihrer Entscheidung mich aufgrund des Suizidversuchs zu entlassen. In derselben Klinik hatte ich am Esstisch eine Krankenschwester mir im Rücken sitzend ertragen müssen, die Freude daran zu haben schien, dass ihre Kontrollaufgabe bzgl. meines Essverhaltens ihr eine gewisse Machtposition verlieh.
In der nächsten psychosomatischen Klinik wurde mir von einer Therapeutin unterstellt, ich hätte am Tag der Aufnahme Steine in die Hosentasche gesteckt, um ein höheres Gewicht vorzutäuschen. Dabei war der „Gewichtsverlust“ am nächsten Morgen auf die Tageszeit und fehlende Kleidung zurückzuführen. Misstrauen und unzutreffende Zuschreibung aufgrund der Diagnose Anorexia nervosa begegneten mir vielfach. Ausdruck fand dies auch darin, dass ich mich unangekündigt morgens um sechs bis auf die Unterwäsche entkleidet vor einer Pflegekraft auf die Waage stellen musste. Hätte ich mich geweigert, wäre ich wohl umgehend entlassen worden. Sich allen von anderen festgelegten Vorgaben zu beugen oder entlassen zu werden, ist leider immer noch ein übliches Procedere in manchen Kliniken.
In der Öffentlichkeit wird häufiger von wildfremden Menschen mein Körpergewicht kommentiert oder interpretiert. Auch glauben sie zu wissen, was ich sicher nicht esse und wieviel am Tag überhaupt.
Viele stigmatisierende Situationen erinnere ich leider nicht konkreter oder gar wörtlich und oft wurden Vorurteile auch sehr subtil ausgedrückt. Als fast schon retraumatisierend erlebte ich die Fixierung auf einer Intensivstation und die Tatsache, dass ich anschließend damit völlig allein gelassen wurde. Beschämend kam hinzu, dass einer der Pflegekräfte mein Kommilitone war. Eindeutig diskriminierend war 2018 die Aussage der Reha-Beraterin bei der Arbeitsagentur, dass man mit psychischer Erkrankung nicht in der Lage sei, im sozialen Bereich zu arbeiten. Folglich wurden meine Bestrebungen, eine Weiterbildung zur systemischen Beraterin zu machen, nicht unterstützt. Selbst die Ausbildung als EX-IN-Genesungsbegleiter*in musste ich selbst finanzieren, obwohl die Arbeitsvermittlerin den rechtlichen Rahmen und Spielraum hatte, die Kostenübernahme zu bewilligen.
Insgesamt hatten all diese Erfahrungen meine Scham und Selbstbeschuldigung bzgl. meiner psychischen Probleme verstärkt. Ich fühlte mich zunehmend als Sonderling, der allenfalls unter Mitpatient*innen Zugehörigkeit empfand. Folglich zog ich mich zurück und traute mich nur in Therapien wirklich über meine Probleme zu reden. Einen Teil meines Innenlebens hielt ich vor Freunden versteckt und verheimlichte auch Fachkräften aus Scham oder Angst vor Verurteilungen manche Gedanken, Gefühle und Zwänge. Oft hatte ich den Eindruck, mich wegen meines auffälligen Verhaltens oder Aussehens erklären zu müssen, um dann ohnehin meist nicht verstanden zu werden. Die oft defizitorientierte Haltung im Hilfesystem gepaart mit den Zuschreibungen durch Fachkräfte führten zu einer starken Identifikation mit den Diagnosen. Ich verlor zeitweise den Blick für meine anderen Persönlichkeitsanteile und meine Ressourcen. Als mir ambulant betreutes Wohnen vorgeschlagen wurde, sah ich mich völlig in der Krankenecke abgeschrieben, hatte ich doch trotz zahlreicher Probleme immer eine hohe Funktionalität im Alltag behalten. Insbesondere in der Psychiatrie fühlte ich mich oft alleine gelassen und versuche, heute dort bloß nie wieder zu landen. Selbst in hochsuizidalen Momenten ist die Psychiatrie für mich keine wirkliche Option mehr, aus Angst meiner Freiheit beraubt und mir schadenden Strukturen unterworfen zu werden.
Mittlerweile habe ich einen ganz anderen Blick auf meine psychische Verwundungen und Diagnosen allgemein. Ich stehe zu meiner Geschichte und sehe meine Symptome als Überlebensstrategie aufgrund früher Traumatisierungen. Wenn mir heute unzutreffende Zuschreibungen begegnen, kommt Wut in mir auf, die ich in Grenzen setzenden Worten ausdrücke. Wird abfällig über „psychisch Kranke“ gesprochen, thematisiere ich dies und oute mich oft als Betroffene. Es war ein langer Weg, all die erfahrene und in mir gewachsene Stigmatisierung abzulegen und mich mit meinen vielen Facetten mehr anzunehmen.
Was war dabei hilfreich? Vor allem Kontakte zu anderen Betroffenen. Zunächst stieß ich auf diese im Rahmen von Klinikaufenthalten. Dort spürte ich erstmalig ein wirkliches Verständnis meiner Probleme und erlebte zuweilen Solidarität. Später entdeckte ich die Selbsthilfe als ein heilsames Feld. Dort traute ich mich zunehmend über mein Innenleben zu reden, meine Erfahrungen mitzuteilen und erlebte angenommen zu sein. Auch manche Therapeut*innen waren dahingehend hilfreich. Doch gab es da immer die Stimme in meinem Kopf, die behauptete, Fachkräfte würden sich nur so zugewandt verhalten, weil es ihr Job sei.
Erst zehn Jahre nach meinen heftigsten Krisenjahren mit zahlreichen Psychiatrieaufenthalten bin ich nun dabei, meine Erlebnisse dort zu verarbeiten. Ein Teil dieses Integrationsprozesses ist auch dieser Bericht. Ich habe meine Wut über das mir und anderen widerfahrene Unrecht entdeckt und daraus ist eine große Motivation erwachsen, darauf hinzuwirken, dass sich im psychiatrischen Hilfesystem und in der Gesellschaft allgemein etwas ändert.
Die Auseinandersetzung mit ganzheitlicher Traumatheorie und wertschätzende Traumaexpert*innen wie Dami Charf und Verena König sowie meine nach Laurence Heller ausgebildete Traumatherapeutin haben mir geholfen, mich aus der Identifikation mit Diagnosen und Selbststigmatisierung zu befreien. Durch sie bekam meine innere Welt einen nachvollziehbaren Kontext und ich begriff zunehmend, dass an mir überhaupt nichts falsch und reparaturbedürftig war, sondern mein System ganz physiologisch auf zum Teil traumatisierende Lebensumstände reagiert hatte. Es ging nicht mehr darum Symptome zu beseitigen, sondern Erfahrungen zu integrieren und lebensdienlichere Strategien zu entwickeln oder wiederzuentdecken.
Viele schmerzhafte Erfahrungen wären mir erspart geblieben, wenn mir schon viel früher mehr Fachkräfte begegnet wären, die mich als ganzen Menschen mit Nöten und Ressourcen gesehen hätten, die Symptome als Ausdruck eines überforderten Ichs verstehen und helfen, neue Wege aus der in ihnen ausgedrückten Not zu finden. Es wäre wichtig gewesen, mir Vertrauen entgegen zubringen, Hoffnung zu vermitteln und mich bei der Sinngebung zu unterstützen. Kurzgesagt hätte ich eine von Recovery und Empowerment geprägte Psychiatrie bzw. Psychosomatik gebraucht, in der Kontakt auf Augenhöhe stattfindet und professionelle Beziehung authentische Begegnung nicht ausschließt. Glücklicherweise sind mir auf meinem nun schon 25 Jahre dauernden Genesungsweg vereinzelt Fachkräfte begegnet, wo diese menschliche Haltung gelebt wurde. In der Schule hätten aufmerksame Lehrer, die Gesprächsangebote machen, mir eine Tür aus der Isolation öffnen können.
Allgemein ist aus meiner Sicht die elementarste Botschaft die es braucht: „Ich bin da, wenn du mich brauchst und ich nehme dich an, so wie du bist.“ Das heißt nicht: „Ich heiße all dein Verhalten gut.“ aber „Ich sehe dich und achte stets deine Würde.“
Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen würde ich anderen Psychiatrieerfahrenen immer raten zu anderen Betroffenen Kontakt zu suchen. Außerdem denke ich, dass die Inanspruchnahme von Genesungsbegleiter*innen und Patientenfürsprecher*innen in vielfacher Hinsicht hilfreich sein kann. Ob und wie umfangreich eine Person sich mit ihrer eigenen Psychiatrieerfahrung outet, ist eine sehr individuelle Entscheidung, die von zahlreichen persönlichen und umweltbezogenen Faktoren abhängig ist. Der kostenlose Kurs „In Würde zu sich stehen“ scheint mir ein hilfreiches Mittel, um für sich herauszufinden, welcher Umgang mit der eigenen Psychiatrieerfahrung für die jeweilige Person stimmig ist. Ich denke, man braucht ein gewisses Maß an Selbstakzeptanz, klarer Haltung bzgl. der eigenen psychischen Verwundungen und emotionale Stabilität, um sich unbeschadet als Psychiatrieerfahrene outen zu können. Mein Weg war es, in sicheren Räumen wie Selbsthilfegruppen zu beginnen und mich von da immer weiter in die Öffentlichkeit zu tasten.
Heute denke ich, wer ein Problem mit meiner psychischen Verwundung hat, kommt als Freund*in nicht in Frage und ist somit auch kein Verlust. Berufliche Kontexte, in denen Psychiatrieerfahrene oder andere marginalisierte Gruppen stigmatisiert werden, sind kein gesundes Biotop für mich. Oft bekomme ich mit der Zeit ein Gefühl dafür, wo ich mich vor Verletzungen schützen muss und wo es sich lohnt, mich zu zeigen und damit oft auch eine Tür für andere Betroffene im Raum zu öffnen. Ich plädiere dafür, sich Schritt für Schritt Menschen und Räume zu suchen, in denen Psychiatrieerfahrung kein Problem ist. Mit diesen im Rücken kann man sich auch auf unsicherem Paket zeigen und dazu beitragen, dass die Wahrnehmung von und der Umgang mit psychisch Verwundeten sich ändert. Ich habe Respekt vor Menschen, die sich in feindlich gestimmte Umgebungen begeben, um ihr berufliches oder persönliches Ziel zu verfolgen. Ich habe einen solchen Panzer nicht, der mich das aushalten ließe.
Im Umgang mit Stigmatisierung haben Selbsthilfegruppen, eine mich bedingungslos annehmende Psychologin und die Auseinandersetzung mit Trauma am meisten geholfen.

KRISENERFAHRUNG ALS RESSOURCE
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Psychisch verwundete ¹ übernehmen wichtige gesellschaftliche Aufgaben in Leipzig
Claudia Bunzel - 29.03.2024
Literaturverzeichnis
Menschen mit psychischen Verwundungen, die sich auf den oft langen und sehr mühsamen Weg der Genesung begeben, gewinnen unterwegs Selbsterkenntnis, entdecken innere Ressourcen, erlangen wertvolle Kompetenzen und jede Menge Erfahrungswissen. Dieses Potenzial für andere Menschen in psychischen Krisen nutzbar zu machen, ist ein Gewinn für beide Seiten. Wer das Glück hat, wieder genug Kraft und Stabilität zu erlangen, um sich neben der eigenen Alltagsbewältigung für andere Menschen zu engagieren, kann dies in vielen Bereichen tun.
Manche, die im eigenen psychischen Tief eine Selbsthilfegruppe als haltgebende Gemeinschaft entdeckten und durch Rückmeldungen, Selbsterprobung sowie Hoffnungstragende in der Gruppe innerlich wuchsen, engagieren sich nicht selten anschließend in der Selbsthilfe. So gibt es Teilnehmende, die neue Gruppen initiieren, andere bei Gründungen begleiten, zu Lotsen werden, beratend tätig sind und offene Selbsthilfeangebote anleiten. In Leipzig gibt es ca. 150 Selbsthilfegruppen mit psychischer Thematik. Zur Beratung und Vermittlung können sich Interessierte an die Selbsthilfekontakt- und Informationsstelle der Stadt Leipzig (SKIS) wenden. Oft ist psychische Verwundung auch mit der Erfahrung verbunden, aufgrund dieser stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Um dem etwas entgegenzusetzen und das Bild von sogenannten psychisch Kranken in der Gesellschaft zu verändern, engagieren sich Betroffene gemeinsam mit anderen Akteurinnen und Akteuren in den Leipziger Vereinen Vorurteilsfrei e.V. und Irrsinnig Menschlich e.V. Sie erzählen u.a. in Leipziger Schulen oder der Universität ihre Genesungsgeschichte, treten in Dialog mit sächsischen Polizeischüler/innen oder verfassen Texte zum Thema.
Fest verankert im sächsischen Psychisch-Kranken-Gesetz (SächsPsychKG) ist die Tätigkeit der Patientenfürsprecher/innen. Nicht ausschließlich, aber besonders Krisenerfahrene können bei Konflikten zwischen Patient/innen und Fachpersonal von stationären und teilstationären Einrichtungen vermitteln. Sie haben durch überstandene Krisen ihre Selbstermächtigung wiedererlangt und können nun mit hoher Sensibilität für die Situation und Empathie psychisch Verwundete unterstützen, ihre Bedürfnisse wie auch Missstände deutlich zu machen. Krisenerfahrung ist jedoch keine Voraussetzung, um als Patientenfürsprecher/in tätig zu werden. In Leipzig koordiniert die Betroffeneninitiative Durchblick e.V. im Auftrag des Gesundheitsamtes der Stadt Leipzig die Patientenfürsprecher/innen. Sie sollen laut SächsPsychKG jeder stationär untergebrachten Person kostenlos zur Verfügung stehen.
All diese Tätigkeiten der psychisch Verwundeten geschehen ehrenamtlich. Doch seit 2007 gibt es für Krisenerfahrene eine Qualifizierungsmöglichkeit, die einen Weg ebnen kann, die Erfahrungsexpertise für die berufliche Entwicklung nutzbar zu machen. Im Rahmen eines EU-Projekts wurde damals das Curriculum für die einjährige Ausbildung zur „EX-IN-Genesungsbegleiter/in“ entwickelt. „EX-IN“ steht für „experienced involvement“ und bedeutet sinngemäß Einbezug von Erfahrenen bzw. Erfahrungswissen. In den damaligen Pilotstädten Bremen und Hamburg sind Genesungsbegleiter/innen schon gut etabliert. Seit der Gründung des EX-IN Sachsen e.V., der die Ausbildung seit 2020 durchführt, kommt auch in Leipzig zunehmend Bewegung in den beruflichen Einbezug von Krisenerfahrenen. So sind in der Psychiatrie der Uniklinik zwei junge Frauen tätig, die dort u.a. den Kurs „In Würde zu sich stehen“ für Patientengruppen anbieten. Beim Verbund gemeindenahe Psychiatrie gehören Genesungsbegleiterinnen zum im Januar 2023 neu entstandenen mobilen Kontakt-Beratungsteam. Sie arbeiten aktuell vorwiegend im Bereich Beratung und aufsuchende Hilfe. Für andere hat sich ein Job im Bereich Wohnen und Rehabilitation ergeben. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Beschäftigung von Genesungsbegleiter/innen im psychiatrischen Versorgungssystem eine Verbesserung für Betroffene, Fachkräfte sowie die Genesungsbeleiter/innen selbst bedeutet ². Leider ist in Sachsen die Finanzierung der Ausbildung (Kosten ca. 2 900 €) für viele eine Hürde. Es bedarf daher noch der Überzeugungsarbeit bei Jobcenter, Arbeitsagentur, Rentenversicherungen und Krankenkassen. Auch haben noch längst nicht alle Arbeitgeber den Zugewinn von Genesungsbegleiter/innen in ihrem Unternehmen bzw. in ihrer Institution erkannt. Hier ist politisches Engagement gefragt, das nicht nur aus den Reihen der Krisenerfahrenen kommen darf.
Dieser bei weitem nicht vollumfassende Überblick von Bereichen, in denen psychisch Verwundete ihre Erfahrungsexpertise einbringen, zeigt, dass Krisenerfahrung nicht nur ein persönliches Problem ist, sondern für die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung vielfältig nutzbar gemacht werden kann. In Leipzig hat sich schon einiges bewegt, doch es ist noch viel Luft nach oben.

ICH HABE DAS RECHT, PSYCHISCH KRANK ZU SEIN
Ein Plädoyer für mehr Respekt von Anastasia W.
AG Vorurteilsfrei - 25.09.2021
Wieso kämpfe ich Tag für Tag?
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Wofür das alles? Es ist sinnlos. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich habe eigentlich keine Kraft. Keine Lust, auch keine Unlust, es ist mir irgendwie gleich. Also mache ich jetzt trotzdem wieder weiter wie immer oder darf ich mich auch einfach mal hängen lassen? Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit begleiten mich Tag für Tag. Wirklich alles fühlt sich sinnlos an, auch meine eigene Daseinsberechtigung. Es ist absurd, wenn ich darüber nachdenke, aber so fühlt es sich an. Meinen mangelnden Antrieb kompensiere ich durch sinnstiftende, zielgerichtete, zweckgebundene Tätigkeiten, weil nur die mich motivieren. Wenn ich sinnvolle Tätigkeiten vorhabe, dann ist das ein guter Grund aufzustehen. Wenn ich das Altglas dabei wegbringen kann, dann ist ein guter Grund spazieren zu gehen. So ungefähr. Sinnstiftende Aufgaben zu bewältigen schützt mein Selbstwertgefühl vor dem Absaufen. Ich habe dann das Gefühl, dass ich etwas geschafft habe. In diesem ewigen Spannungsverhältnis zwischen Sinnlosigkeit und Sinnsuche komme ich so durch den Tag. Ich bleibe am Laufen. Immer auf der Suche nach der nächsten Portion Dopamin oder Serotonin. Gute Gesellschaft, Kochen, Yoga, Gärtnern, Tanzen, Schreiben, Musik und vieles mehr können mich in einen Flow versetzen oder mindestens gut ablenken. Dabei muss ich aber auch aufpassen, dass ich damit nicht übertreibe. Manchmal springe ich auf die Tätigkeit einfach nicht an, dann bringt sie mir nichts. Oder wenn ich sie zu oft mache, lässt die Wirkung womöglich nach. Und die Dosis macht das Gift. Es gab Zeiten, da musste ich ein Maß finden, um mich nicht mit einer Essstörung zugrunde zu richten. Ich musste kreativ werden und mir meinen Erfahrungsschatz mehr mühsam als müßig erarbeiten.
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Schuldgefühle
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Gefühle der Minderwertigkeit, Schuld und Angst vor Ablehnung begleiten mich seit meiner Kindheit. Irgendwann spürte ich ständig dieses diffuse Gefühl, nicht gut genug zu sein und besser sein zu müssen. Dafür fand ich damals noch keine Worte, zumal in meiner Familie Gefühle und Konflikte unter den Teppich gekehrt wurden. Überanpassung, Leistungsbereitschaft bis hin zu Perfektionismus waren meine frühen Antworten auf meine Gefühlswelt. In der Familie, in der Schule und überhaupt wurde ich die Fleißige, die Vernünftige, die Hilfsbereite, die Umgängliche. Am besten noch schlank und hübsch, dachte sich mein pummeliges Kind-Ich. Bloß keinen Ärger machen. Keinen Streit anfangen. Keine Ecken und Kanten zeigen. Bloß nichts tun, was mein tiefes Schuldgefühl triggern und beweisen könnte, dass ich ungenügend bin. Denn das glaubte ich ja irgendwie tief und fest. In meiner Pubertät übertrug ich den Perfektionismus auch auf mein Essverhalten und lebte mein Bedürfnis nach Ordnung, Sicherheit und Kontrolle durch die Beschäftigung mit Essen aus. Ein Teufelskreis aus Essen und Hungern zugleich. Ich funktionierte wie ein Roboter. Innerlich war ich sozial isoliert, in meiner eigenen Welt, in der Ordnung herrschte. Alles, was ich tat, überdachte und kontrollierte ich grundsätzlich im Voraus. Big Brother is watching you im eigenen Kopf. Langsam bekam ich aber auch eine Ahnung, dass ich mit meinem Essverhalten irgendwie nicht ‚normal‘ war, was mein Scham- und Schuldgefühl verstärkte. Ich lernte also, die Magersucht so zu drosseln, dass ich damit anderen nicht mehr auffiel. Und dass ich zu Hause so zielstrebig und viel für die Schule arbeitete, wurde in der Familie und Schule gelobt, vielleicht mal von Geschwistern aufs Korn genommen, in jedem Fall aber toleriert. Also gab es keinen Grund etwas daran zu ändern und ich funktionierte so weiter vor mich hin. Die Schule hatte in meiner Jugend Priorität. Meine Schwestern und Gleichaltrige tickten da natürlich anders. Von Aufblühen in der Schule konnte aber nicht die Rede sein. Ich hielt mich mit meiner Präsenz im Unterricht zurück. Hauptsache nicht negativ auffallen, das war mein Motto. Immer an die Regeln halten. Und mit möglichst guten Noten glänzen.
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Perfektionismus
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Der Perfektionismus funktionierte im Erwachsenenalter zunehmend schlechter und ließ mich ausgelaugt und erschöpft zurück. Bereits zu Beginn meiner Studienzeit kam die erste depressive Episode, die mich ziemlich außer Gefecht setzte. In der Anonymität der Uni fiel ich damit aber nicht auf. Es wusste ja kaum jemand, dass ich gar nicht mehr in Vollzeit studiere, dass ich zum zweiten Mal das Fach gewechselt und eine Psychotherapie angefangen habe. Aus meinem gewohnten Perfektionismus heraus tat ich alles, um möglichst weiter zu funktionieren und nicht negativ aufzufallen. Die ambulante Psychotherapie sollte mich wieder gesund und leistungsfähig machen. Eine zweite Therapie folgte einige Jahre später, weil irgendwie immer noch nicht alles in Ordnung war. Jetzt bin ich 30, mitten in einer nicht enden wollenden Berufsfindungskrise und erhole mich von einer zweiten, schweren depressiven Episode. Die war eingetreten, nachdem ich zum zweiten Mal nach wenigen Monaten sozialpädagogischer Berufstätigkeit gekündigt hatte, weil ich nicht mehr konnte. Auf der Arbeit hatte ich viel Verantwortung getragen und war von der altbekannten Angst geplagt worden, mich irgendwie schuldig zu machen. Also versuchte ich allen und allem gerecht zu werden und brach unter dem Druck zusammen.
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Das Gefühl versagt zu haben, trieb mein Schuldgefühl in unerträgliche Höhen. Da ließ ich zum ersten Mal sowohl meine diffusen Depressionen und Ängste als auch meine neu entflammte Essstörung stationär behandeln. Das war dann der Startschuss dafür, meine Krankheitssymptome als solche zu erkennen, zu akzeptieren und mich von der Schuld an meiner eigenen Krankheit zu befreien. Das ist aber ein Prozess, der da erst begonnen hat. Meine ersten Angst- oder Panikattacken habe ich nun retrospektiv als solche erkannt. Meine dauerpräsenten Kopf- und Nackenschmerzen, die Bauchschmerzen, das Schwächegefühl, die Atembeklemmung habe ich nun als Angst- und Stresssymptome begriffen. Die Macht und Chronifizierung meiner Essstörung wurde mir bewusst. Und die Gefühle der inneren Leere und Sinnlosigkeit, mein ständiger Drang seit meiner Jugend meinem Leben mehr Sinn zu geben, all das und viel mehr begann ich endlich überhaupt erst zu beachten.
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unsichtbare Krankheiten
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Depressionen, Angststörungen und Essstörungen sind für die Laien oft unsichtbare Krankheiten. Dabei ist die Unsichtbarkeit auch Teil der Krankheit. Ich will sie sichtbar machen, weil Scham- und Schuldgefühl, Angst vor Ablehnung und soziale Isolation sich sonst verstärken und das alles nur noch schlimmer machen kann. Ich will diese Erkrankungen auch deshalb sichtbar machen, weil ich meine persönlichen, alltäglichen Leistungen im Umgang mit meiner depressiven und ängstlichen Gefühlswelt gewürdigt wissen will. Angststörung bedeutet nicht nur, ständig Angst zu haben, sondern eben ständig in der Konfrontation zu sein und zu entscheiden, ob ich mich der Gefahr jetzt stelle oder nicht. Ständig mit der Angst zu ringen ist ein ständiger Kampf. Die Erschöpfung von all der Anstrengung lässt mich manchmal zweifeln. Warum strenge ich mich jeden Tag so an? Warum konfrontiere ich mich immer wieder in sozialen Situationen? Warum fange ich neue Jobs und Projekte an, wenn ich gar nicht das Selbstvertrauen geschweige denn Lust darauf habe? Es ist wie Sisyphusarbeit. Ich drehe mich im Kreis. Die depressiven Empfindungen bleiben. Depression ist ein Warnsignal des Körpers, dass etwas schief läuft, und ein Hilfeschrei nach Veränderung und einem besseren Leben. Menschen mit Depressionen sind mit der existenziellen Sinnfrage des Lebens besonders konfrontiert. Was macht mein Leben wieder lebenswert? Was schenkt mir Energie? Was macht mich wieder lebendig? Was finde ich schön in der Welt? Für mich sind das ganz alltägliche Fragen, die mich dazu nötigen ein sehr bewusstes Leben zu führen.
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Das Recht psychisch krank zu sein
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Wo bleiben Mitgefühl und Verständnis für das, was Betroffene täglich erleben? Mitgefühl und Verständnis, das wir uns eigentlich nicht erst verdienen müssen. Wenn ich mich durch und durch so fühle, darf ich mich nicht auch einfach mal hängen lassen? Wer hat das Recht, mir zu verbieten, die Gefühle zu haben und auszudrücken, die ich eben gerade habe? Und wo bleibt auch die Anerkennung für den alltäglichen Kampf und die erlernten Kompetenzen im Umgang mit dem depressiven Dauerstress? Möglicherweise auch für die erarbeiteten Mittel und Wege, um Krisen konstruktiv zu bewältigen und das eigene Leben umzukrempeln? Vielmehr herrscht das Vorurteil und Missverständnis, dass Menschen mit Depressionen zu faul oder zu schwach oder zu unfähig zum Leben sind. Depression ist eine Erkrankung, die sich niemand aussucht. Krankheit ist ein Weg und manche Menschen müssen diesen Weg einfach gehen. Betroffene haben das Recht, so psychisch krank zu sein, wie sie nun einmal gerade sind. Psychische Erkrankungen müssen beachtet werden, bevor sie heilen können. Und Betroffene haben das Recht auf Heilung. Wir treten ja auch nicht jemandem gegen das gebrochene Bein. Das wäre zynisch. Menschen mit Depressionen sind in ihrem Selbstwertgefühl und ihrem Vertrauen in positive soziale Erfahrungen und Beziehungen ohnehin tief verletzt. Da können sie die Vorurteile und Verachtung von anderen erst recht nicht gebrauchen. Sie gehören genauso in die Gesellschaft wie alle anderen auch. Wir müssen unseren Wert nicht an unserer Funktionalität messen. Und wo bleibt vielleicht auch die Anerkennung für Menschen, die sich mit den existenziellen Fragen des Lebens und Menschseins auseinandersetzen – die über den Tellerrand und das Hamsterrad hinaus denken und leben? Vielleicht haben Sie uns etwas Wichtiges zu sagen?
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Das ist eine verrückte Welt. Im Bildungssystem und in der Arbeitswelt werden Perfektionismus und Selbstausbeutung meistens belohnt und verstärkt, während für die Befindlichkeiten und das Wohlergehen der Menschen kein Raum ist. Die Gesellschaft verachtet psychische Erkrankungen, die sie selbst mit hervorbringt. Betroffene müssen ihre Befindlichkeiten verstecken und sich dafür schämen. Sie müssen sich am herrschenden Ideal ungebrochener Leistungsfähigkeit und vermeintlicher Stärke messen und sich minderwertig fühlen. Ich bin das alles leid. Ich will, dass Betroffenen endlich der Respekt entgegengebracht wird, der ihnen zusteht. Dass ihnen mit Achtung begegnet und zugehört wird. Dass sie mit ihrem Schmerz, ihrem Kampf, ihren Leistungen und ihrer wahren Stärke gesehen werden, damit sie sich auch selbst mehr achten können.
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Depressionen, Angststörungen und Essstörungen sind für die Laien oft unsichtbare Krankheiten. Dabei ist die Unsichtbarkeit auch Teil der Krankheit. Ich will sie sichtbar machen, weil Scham- und Schuldgefühl, Angst vor Ablehnung und soziale Isolation sich sonst verstärken und das alles nur noch schlimmer machen kann.

ARBEIT UND SEELISCHE GESUNDHEIT
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Ein Plädoyer für der Seele zumutbare Arbeit von Anastasia W.
AG Vorurteilsfrei - 18.10.2021
Qualifikation und Realität
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Ich arbeite zwei- bis dreimal in der Woche abends in der Küche eines Pizzalieferservices mit relativ wenig Verantwortung. Im Rahmen einer Weiterbildung zur Lerntherapeutin führe ich mit einem Kind einmal pro Woche Lerntherapie durch, die ich vor- und nachbereite. Daneben gebe ich noch einem Jugendlichen Nachhilfe. Damit komme ich über die Runden. Für die WG-Miete und meinen Lebensunterhalt reicht es. Meine BaföG-Schulden aus einem langjährigen Studium kann ich damit nicht begleichen. Geld für ein sportlicheres Fahrrad oder regelmäßiges Bouldern mag ich nicht ausgeben, auch wenn es mir therapeutisch helfen könnte. Gesellige Unternehmungen und kulturelle Veranstaltungen mag ich mir manchmal auch nicht leisten, zumal sie mit meinen Abend- und Wochenenddiensten nicht immer vereinbar sind. An eine weitere kleine Weiterbildung, um beruflich mehr Fuß zu fassen, ist nicht zu denken. Ich bin 30 Jahre alt und habe Probleme mich in die Berufswelt zu integrieren, weil ich an chronischen Depressionen und einer generalisierten Angststörung leide. Das ist meine Geschichte und sicher eine von vielen. Alle paar Tage schaue ich nach Stellenanzeigen oder möglichen Arbeitgebern. Mit meinen Erfahrungen und Bedürfnissen kann ich das meiste auf dem Stellenmarkt ausschließen. Trotz oder wegen meines Masterabschlusses der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Wie das so mit Geisteswissenschaften ist, hat mich das Studium nicht automatisch für einen Beruf qualifiziert. Eine Karriere an der Uni war für mich mit meiner sozialen Angststörung nicht denkbar. Als ‚Halbqualifizierte“ in der Sozialen Arbeit bin ich zweimal gescheitert, was meine letzte schwere depressive Episode triggerte. Mit meiner Angststörung und Depression fühle ich mich einfach nicht in der Lage, hilfsbedürftigen Menschen Halt zu geben. Heute schicke ich selten und teilweise initiativ Bewerbungen raus. Das geht mir leicht von der Hand, darin bin ich geübt und es gibt mir das Gefühl, irgendwie voranzukommen. Vereinzelt kommt es zu einem Bewerbungsgespräch. Ob ich mir nach einer Zusage die Arbeit wirklich zutraue, steht auf einem anderen Blatt. Soweit bin ich bisher noch nicht gekommen. Die Lerntherapie und Nachhilfe sorgen dafür, dass ich mein Studium „verwursten“ und zum Selbstschutz anderen Menschen wahrheitsgemäß und hochtrabend über mich erzählen kann: „Ich mache eine Weiterbildung zur Lerntherapeutin.“ Das ist beruhigend. Die Tätigkeit macht mir mteilweise sogar Freude, ich werde immer routinierter und selbstsicherer und kann einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Aber leben kann ich davon allein nicht. Meine Lerntherapie aufzustocken auf so viele Stunden und Kinder, dass ich davon leben könnte, traue ich mir nicht zu. Das steht ohnehin nicht zur Debatte, weil ich mich noch weiterbilde und erst mit den Erfahrungen Allmählich mein Selbstvertrauen darin aufbaue.
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Gezwungen zur Arbeit
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Kann ich mit meiner Depression arbeiten? Ja. Sollte ich mit meiner Depression arbeiten? Ja, laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hilft Arbeit bei der Genesung. Jein, würde ich sagen, weil es auf die Art und den Umfang der Arbeit ankommt. Nicht jede Arbeit hilft jedem Menschen bei seiner Genesung. Ich bin unzufrieden, ich zweifle und grüble über meine Situation, weil der Gastrojob mich oft so auslaugt, dass ich den ganzen Tag danach zur Regeneration brauche. Fest steht, dass ich über diesen Midijob materiell abgesichert und automatisch krankenversichert bin, was mir mehr Geld einspart als bei einem Minijob mit zwei Diensten pro Woche. Aber ist die Arbeit das wert? Nicht zuletzt strample ich mich in der Pizzaküche ab, um meinen Selbstwert zu retten. Dadurch bin ich wenigstens ein funktionierendes Rädchen im System und ein Teil der Gemeinschaft. Das fühlt sich aber nicht heilsam an, weil die Arbeit meine emotionale Taubheit und Gleichgültigkeit eher verstärkt. Es gibt bestimmt Menschen, denen der Job durchaus passen und gefallen könnte. Mich stresst er aber ungemein. Wie im Tunnel arbeite ich die fünf Stunden oder mehr ohne Sitz- oder Essenspause durch. Die Menschen und das Miteinander auf engem Raum überfordern mich. Danach bin ich völlig ermattet und brauche Zeit, um langsam wieder zu mir zu kommen. Vor dem Bezug von Arbeitslosengeld-II- oder Hartz-IV-Leistungen graut es mir. Das habe ich schon einmal erlebt. Damals wollte ich da bloß irgendwie wieder raus aus der sogenannten Arbeitslosigkeit. Ich fühlte mich nutzlos, wertlos und schuldig, weil der Stempel „arbeitslos“ nun an mir haftete. Ich kam zu dem Schluss: ich brauche eine Erwerbstätigkeit, um mein Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl zu retten. Dafür nahm ich Kosten und Mühen auf mich. Ich zog in eine andere Stadt, wo ich die Weiterbildung absolvieren und durch die räumliche Nähe zu meiner Schwester hoffentlich Kraft tanken könnte. Die Weiterbildung und den Umzug finanzierte ich aus meinen Ersparnissen. Der Neuanfang verlangte mir nervlich viel ab und zwang mich, wieder ein Medikament einzunehmen, das mich wenigstens ruhig schlafen lässt.
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Heilsame Aktivitäten
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Meine unentlohnten, „ehrenamtlichen“ Tätigkeiten als Mitglied in einer Arbeitsgemeinschaft zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und als Kinderbuchrezensentin in einer Arbeitsgemeinschaft der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft helfen mir, mich wieder lebendig und als wertvollen Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Ebenso meine Aktivitäten, mit denen ich mich alleine beschäftige, wie das Schreiben, Lesen, Keyboardspielen, Kochen, Yoga, Fahrradfahren oder Gärtnern. Ich bin auf Tätigkeiten mit Sinn und Leidenschaft angewiesen, um mich selbst wieder mehr zu spüren und wiederzufinden. In meinem Alltag bin ich ständig aktiv, um mich quasi selbst zu therapieren. Im Kontakt mit anderen Menschen brauche ich einen authentischen und wertschätzenden Umgang, damit ich wieder mehr Gefühl für mich selbst und andere bekomme. Dafür besuche ich auch eine Selbsthilfegruppe. Ich gehe regelmäßig zu einem Psychiater, um medikamentös versorgt zu bleiben, und hoffe auf eine baldige Psychotherapie.
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Erwerbstätigkeit geht über Gesundheit
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Durchaus komme ich in der Pizzaküche in einen Flow und genieße die Gesellschaft im Team. Aber das überwiegt bei weitem nicht. Mein Pizzajob fühlt sich eher destruktiv an, nicht heilsam. Bislang komme ich aber aus dem Dilemma nicht heraus, dass ich den Job für meine materielle und vor allem für meine sozial-emotionale Existenzsicherung brauche. So groß ist die Angst, mein Gesicht zu verlieren und in Scham zu versinken, wenn ich nicht mein eigenes Geld verdiene. Sicher zweifle und grüble ich so oder so, weil ich Depressionen habe. Sicher fühle ich mich ständig gestresst und von beruflichen Anforderungen oder sonstigen vermuteten Erwartungen anderer überfordert, weil ich Depressionen habe. Aber ich weiß auch, was mir gut tut und mir wieder Lebensenergie zurückgibt. Ich bin mehr als meine Depression oder Angststörung und auf einem Heilungsweg. Mein Wunsch ist es, ausschließlich Tätigkeiten auszuüben, die zu mir passen und mir dabei helfen, mich selbst wieder zu spüren und zu heilen. Ist das zu viel verlangt? Stattdessen fühle ich mich gezwungen, einen Job zu leisten, der meine Apathie verstärkt und meine Genesung sabotiert. Habe ich das Recht auf Arbeit, also auf materielle Absicherung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Habe ich das Recht auf Genesung? Und vor allem: habe ich das Recht auf beides? In dieser Gesellschaft, so scheint mir, kann ich mich nur für eines der beiden entscheiden: entweder Arbeit, die meine Heilung verhindert, oder ‚Arbeitslosigkeit‘. Entweder das kranke System bedienen oder aus dem System rausfallen. Es sei denn, ich habe Glück bei der Arbeitssuche, der Job passt zu mir und sichert meinen Lebensunterhalt. Beziehungsweise ich habe einen passenden Job und mein Lebensunterhalt ist automatisch durch ein bedingungsloses Grundeinkommen gesichert. Davon kann ich bislang nur träumen. Arbeit und Genesung sind aber beides Grundbedürfnisse oder auch Grundrechte und sie müssen zusammen gedacht werden. Es stellt sich nicht die Frage, ob eine Arbeit mit Depression oder Angststörung möglich ist, sondern welche Arbeit individuell bei der Genesung helfen kann. Das gilt im Prinzip für alle Erkrankungen.
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Leben in Würde
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Die Behörden oder auch wir selbst, die das alles leider verinnerlicht haben, müssen damit aufhören, uns dazu zu zwingen, Arbeit zu leisten, die unsere Krankheit verstärkt und unsere Heilung verhindert. Die Entscheidung zwischen so einer Erwerbstätigkeit und der „Arbeitslosigkeit“ ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Stattdessen müssen die Behörden Menschen aktiv dabei helfen, Arbeit zu finden, die zur Persönlichkeit, zur aktuellen Lebenssituation, Erkrankung und Genesung passt. Eben nicht nur Arbeit, die für den Menschen auf Biegen und Brechen leistbar ist. So ein Konzept wäre nachhaltiger und gewaltfreier. Langfristig und weiter gedacht brauchen wir natürlich eine bedingungslose Grundsicherung, weil nur die unser Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl schützt. In anderen Worten unsere Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 Grundgesetz. Sie ist aber nicht unantastbar, sondern zutiefst verletzlich und wird ständig verletzt. Deswegen gibt es ja dieses Gesetz. Wenn die Existenz der Menschen, sowohl materiell als auch sozial-emotional, von Grund auf nicht gesichert ist, werden Menschen ihrer Würde beraubt. Es wird davon ausgegangen, dass wir erstmal etwas leisten müssen, um in dieser Gesellschaft existieren zu dürfen. Natürlich ist es ohnehin unser Bedürfnis und es gehört zu unserem Leben dazu, dass wir uns in eine Gemeinschaft einbringen, nützlich sein und etwas bewirken wollen. Wir wollen alle ein wichtiger Teil der Gruppe sein. Das ist zumindest mein Menschenbild. Aber müssen wir dabei nicht auch wir selbst bleiben und herausfinden, was uns Lebensenergie spendet und was wir der Welt zu geben haben? Wenn wir ständig das Gefühl haben, noch nicht richtig dazuzugehören und womöglich ausgeschlossen zu werden, stehen Stress und Angst im Vordergrund. Unser Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl ist ständig in Gefahr. Natürlich versuchen wir dann alles, um unsere Existenz zu sichern. Wir werden in ein Hamsterrad gedrängt. Wir werden vom König zum Bettler gemacht. Das ist ein gesellschaftliches Grundproblem, das Selbstwertprobleme und seelische Erkrankungen schürt. Wir brauchen von Grund auf die Sicherheit, dass wir dazugehören und geschätzt werden, so wie wir sind. Und mehr Raum, um unsere Bedürfnisse und Talente zu erkennen und in die Gemeinschaft einbringen zu können. Kindergarten, Schule, Ausbildung, Arbeit, selbst unsere Familie lehren uns leider etwas anderes. Wir werden dazu erzogen und sozialisiert, uns anzupassen, zu funktionieren und unsere Gefühle zu vernachlässigen. Und doch ist Persönlichkeitsentfaltung ein Grundrecht. Artikel 2 Grundgesetz Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (…). Absatz 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. (…).“ Doch wie sollen wir uns für eine passende Arbeit entscheiden, wenn wir immerzu gelernt haben, uns anzupassen? Der Staat müsste uns davor schützen, Arbeit zu leisten, die uns schadet, und uns ermöglichen, uns so einzubringen, wie es unserer Persönlichkeit und Bedürfnissen entspricht. Das wären tiefgreifende seelische Gesundheitsprävention und eine Umsetzung des Grundrechts auf Persönlichkeitsentfal-tung. Brauchen Menschen Hilfe dabei, ihren beruflichen Platz zu finden, weil sie zum Beispiel psychisch erkrankt sind, so müssten die Behörden intervenieren und sie darin unterstützen, die Arbeit zu finden, die ihnen beliebt. Im persönlichen Gespräch muss ein Konsens darüber hergestellt werden, wie es für die vulnerable Person beruflich weitergehen kann. Wenn wir die Persönlichkeits-entfaltung, Inklusion und seelische Gesundheit fördern und das bestehende System nicht einfach reproduzieren wollen, müssen wir mehr vom Menschen aus denken. Wenn uns das bestehende System nicht mehr behindert, sondern darin unterstützt, wir selbst zu sein, sind wir nicht mehr krank oder „behindert“.
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Die Behörden oder auch wir selbst, die das alles leider verinnerlicht haben, müssen damit aufhören, uns dazu zu zwingen, Arbeit zu leisten, die unsere Krankheit verstärkt und unsere Heilung verhindert. Die Entscheidung zwischen so einer Erwerbstätigkeit und der „Arbeitslosigkeit“ ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera.
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