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Ignoranz und Abwertung schmerzen

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Ein Erfahrungsbericht über erlebte Stigmatisierung
Claudia Bunzel - 29.03.2024

Die stärkste Stigmatisierung war die, die ich mir selbst antat, dicht gefolgt von meinen Erlebnissen im Gesundheitssystem. Doch fangen wir am Anfang und damit bei meiner Familie an. Meine Eltern unterstützten mich bei der Therapeuten- und der späteren Kliniksuche, als die Magersucht mit 15 Jahren nicht mehr zu übersehen war. Die männlichen Familienmitglieder reagierten ansonsten vielfach mit Unverständnis und Hilflosigkeit. Zuweilen wurden mir Sätze wie „Du tyrannisierst uns“ oder “Du bist verrückt“ im privaten Umfeld an den Kopf geworfen. Mehrere über Jahre enge Freundschaften wurden aufgrund meiner psychischen Probleme im Verlauf meines Lebens sehr abrupt beendet. Die Verhaltensweisen, die für die jeweiligen Personen nicht mehr tragbar waren, variierten. Was wirklich dahinter stand, konnte ich aufgrund des kurzfristigen radikalen Kontaktabbruchs kaum herausfinden. In der Schule gab es keinerlei Reaktion auf meinen schwindenden Körper, meinen sozialen Rückzug und die dreimonatige Abwesenheit in der 10. Klasse aufgrund eines Klinikaufenthalts. Lediglich in Mathematik bekam ich eine schlechtere Note als es meinen Klausurleistungen entsprach. Begründung war meine Fehlzeit und eine einzige dadurch verpasste Klassenarbeit. Überraschend war das alles nicht, hatte angeblich auch schon niemand das Mobbing drei Jahre zuvor wahrgenommen. Erst nach meinem Suizidversuch folgten auf Drängen meiner Eltern Reaktionen, die die Mobbingsituation beendeten, um dann wieder zum leistungsorientierten Schulalltag überzugehen. Während ich mit 14 im Krankenhaus noch auf mitfühlendes Personal traf, spürte ich mit Mitte zwanzig zunehmend genervte, gleichgültige und ablehnende Reaktionen bezüglich meiner Suizidalität und selbstverletzendem Verhaltens vor allem seitens des Pflegepersonals. Auch hier war keine Reaktion die häufigste Variante. Als ich ein zweites Mal mit einer Intoxikation in der Notaufnahme landete, kommentierte die Krankenschwester unser Wiedersehen mit Augenverdrehen. Aber es gab auch mitfühlende und zugleich hilflos wirkende junge Ärzt*innen auf der Intensivstation. Schon während eines Praktikums in der Suchtmedizin im Rahmen des Medizinstudiums hatte ich zu spüren bekommen, dass Borderline eine Diagnose ist, die sogleich bei vielen Fachkräften eine Reihe von negativen Zuschreibungen gegenüber den Patient*innen hervorrief und über die am häufigsten abwertend gesprochen wurde. So hielt ich mich tunlichst zurück, meine eigene Betroffenheit von psychischen Problemen zu zeigen. Erniedrigend war es, mir in noch psychisch labiler Verfassung vom Chefarzt einer Psychosomatik vorhalten zu lassen, was ich mit dem eine Woche zuvor begangenen Suizidversuch meinen Mitpatientinnen antue, als hätte ich mutwillig eine Straftat begangen. Anschließend musste ich mich dann vor versammeltem Stationsteam rechtfertigen, warum sie mich trotzdem wieder aufnehmen sollten. Es blieb bei ihrer Entscheidung mich aufgrund des Suizidversuchs zu entlassen. In derselben Klinik hatte ich am Esstisch eine Krankenschwester mir im Rücken sitzend ertragen müssen, die Freude daran zu haben schien, dass ihre Kontrollaufgabe bzgl. meines Essverhaltens ihr eine gewisse Machtposition verlieh. In der nächsten psychosomatischen Klinik wurde mir von einer Therapeutin unterstellt, ich hätte am Tag der Aufnahme Steine in die Hosentasche gesteckt, um ein höheres Gewicht vorzutäuschen. Dabei war der „Gewichtsverlust“ am nächsten Morgen auf die Tageszeit und fehlende Kleidung zurückzuführen. Misstrauen und unzutreffende Zuschreibung aufgrund der Diagnose Anorexia nervosa begegneten mir vielfach. Ausdruck fand dies auch darin, dass ich mich unangekündigt morgens um sechs bis auf die Unterwäsche entkleidet vor einer Pflegekraft auf die Waage stellen musste. Hätte ich mich geweigert, wäre ich wohl umgehend entlassen worden. Sich allen von anderen festgelegten Vorgaben zu beugen oder entlassen zu werden, ist leider immer noch ein übliches Procedere in manchen Kliniken. In der Öffentlichkeit wird häufiger von wildfremden Menschen mein Körpergewicht kommentiert oder interpretiert. Auch glauben sie zu wissen, was ich sicher nicht esse und wieviel am Tag überhaupt. Viele stigmatisierende Situationen erinnere ich leider nicht konkreter oder gar wörtlich und oft wurden Vorurteile auch sehr subtil ausgedrückt. Als fast schon retraumatisierend erlebte ich die Fixierung auf einer Intensivstation und die Tatsache, dass ich anschließend damit völlig allein gelassen wurde. Beschämend kam hinzu, dass einer der Pflegekräfte mein Kommilitone war. Eindeutig diskriminierend war 2018 die Aussage der Reha-Beraterin bei der Arbeitsagentur, dass man mit psychischer Erkrankung nicht in der Lage sei, im sozialen Bereich zu arbeiten. Folglich wurden meine Bestrebungen, eine Weiterbildung zur systemischen Beraterin zu machen, nicht unterstützt. Selbst die Ausbildung als EX-IN-Genesungsbegleiter*in musste ich selbst finanzieren, obwohl die Arbeitsvermittlerin den rechtlichen Rahmen und Spielraum hatte, die Kostenübernahme zu bewilligen. Insgesamt hatten all diese Erfahrungen meine Scham und Selbstbeschuldigung bzgl. meiner psychischen Probleme verstärkt. Ich fühlte mich zunehmend als Sonderling, der allenfalls unter Mitpatient*innen Zugehörigkeit empfand. Folglich zog ich mich zurück und traute mich nur in Therapien wirklich über meine Probleme zu reden. Einen Teil meines Innenlebens hielt ich vor Freunden versteckt und verheimlichte auch Fachkräften aus Scham oder Angst vor Verurteilungen manche Gedanken, Gefühle und Zwänge. Oft hatte ich den Eindruck, mich wegen meines auffälligen Verhaltens oder Aussehens erklären zu müssen, um dann ohnehin meist nicht verstanden zu werden. Die oft defizitorientierte Haltung im Hilfesystem gepaart mit den Zuschreibungen durch Fachkräfte führten zu einer starken Identifikation mit den Diagnosen. Ich verlor zeitweise den Blick für meine anderen Persönlichkeitsanteile und meine Ressourcen. Als mir ambulant betreutes Wohnen vorgeschlagen wurde, sah ich mich völlig in der Krankenecke abgeschrieben, hatte ich doch trotz zahlreicher Probleme immer eine hohe Funktionalität im Alltag behalten. Insbesondere in der Psychiatrie fühlte ich mich oft alleine gelassen und versuche, heute dort bloß nie wieder zu landen. Selbst in hochsuizidalen Momenten ist die Psychiatrie für mich keine wirkliche Option mehr, aus Angst meiner Freiheit beraubt und mir schadenden Strukturen unterworfen zu werden. Mittlerweile habe ich einen ganz anderen Blick auf meine psychische Verwundungen und Diagnosen allgemein. Ich stehe zu meiner Geschichte und sehe meine Symptome als Überlebensstrategie aufgrund früher Traumatisierungen. Wenn mir heute unzutreffende Zuschreibungen begegnen, kommt Wut in mir auf, die ich in Grenzen setzenden Worten ausdrücke. Wird abfällig über „psychisch Kranke“ gesprochen, thematisiere ich dies und oute mich oft als Betroffene. Es war ein langer Weg, all die erfahrene und in mir gewachsene Stigmatisierung abzulegen und mich mit meinen vielen Facetten mehr anzunehmen. Was war dabei hilfreich? Vor allem Kontakte zu anderen Betroffenen. Zunächst stieß ich auf diese im Rahmen von Klinikaufenthalten. Dort spürte ich erstmalig ein wirkliches Verständnis meiner Probleme und erlebte zuweilen Solidarität. Später entdeckte ich die Selbsthilfe als ein heilsames Feld. Dort traute ich mich zunehmend über mein Innenleben zu reden, meine Erfahrungen mitzuteilen und erlebte angenommen zu sein. Auch manche Therapeut*innen waren dahingehend hilfreich. Doch gab es da immer die Stimme in meinem Kopf, die behauptete, Fachkräfte würden sich nur so zugewandt verhalten, weil es ihr Job sei. Erst zehn Jahre nach meinen heftigsten Krisenjahren mit zahlreichen Psychiatrieaufenthalten bin ich nun dabei, meine Erlebnisse dort zu verarbeiten. Ein Teil dieses Integrationsprozesses ist auch dieser Bericht. Ich habe meine Wut über das mir und anderen widerfahrene Unrecht entdeckt und daraus ist eine große Motivation erwachsen, darauf hinzuwirken, dass sich im psychiatrischen Hilfesystem und in der Gesellschaft allgemein etwas ändert. Die Auseinandersetzung mit ganzheitlicher Traumatheorie und wertschätzende Traumaexpert*innen wie Dami Charf und Verena König sowie meine nach Laurence Heller ausgebildete Traumatherapeutin haben mir geholfen, mich aus der Identifikation mit Diagnosen und Selbststigmatisierung zu befreien. Durch sie bekam meine innere Welt einen nachvollziehbaren Kontext und ich begriff zunehmend, dass an mir überhaupt nichts falsch und reparaturbedürftig war, sondern mein System ganz physiologisch auf zum Teil traumatisierende Lebensumstände reagiert hatte. Es ging nicht mehr darum Symptome zu beseitigen, sondern Erfahrungen zu integrieren und lebensdienlichere Strategien zu entwickeln oder wiederzuentdecken. Viele schmerzhafte Erfahrungen wären mir erspart geblieben, wenn mir schon viel früher mehr Fachkräfte begegnet wären, die mich als ganzen Menschen mit Nöten und Ressourcen gesehen hätten, die Symptome als Ausdruck eines überforderten Ichs verstehen und helfen, neue Wege aus der in ihnen ausgedrückten Not zu finden. Es wäre wichtig gewesen, mir Vertrauen entgegen zubringen, Hoffnung zu vermitteln und mich bei der Sinngebung zu unterstützen. Kurzgesagt hätte ich eine von Recovery und Empowerment geprägte Psychiatrie bzw. Psychosomatik gebraucht, in der Kontakt auf Augenhöhe stattfindet und professionelle Beziehung authentische Begegnung nicht ausschließt. Glücklicherweise sind mir auf meinem nun schon 25 Jahre dauernden Genesungsweg vereinzelt Fachkräfte begegnet, wo diese menschliche Haltung gelebt wurde. In der Schule hätten aufmerksame Lehrer, die Gesprächsangebote machen, mir eine Tür aus der Isolation öffnen können. Allgemein ist aus meiner Sicht die elementarste Botschaft die es braucht: „Ich bin da, wenn du mich brauchst und ich nehme dich an, so wie du bist.“ Das heißt nicht: „Ich heiße all dein Verhalten gut.“ aber „Ich sehe dich und achte stets deine Würde.“ Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen würde ich anderen Psychiatrieerfahrenen immer raten zu anderen Betroffenen Kontakt zu suchen. Außerdem denke ich, dass die Inanspruchnahme von Genesungsbegleiter*innen und Patientenfürsprecher*innen in vielfacher Hinsicht hilfreich sein kann. Ob und wie umfangreich eine Person sich mit ihrer eigenen Psychiatrieerfahrung outet, ist eine sehr individuelle Entscheidung, die von zahlreichen persönlichen und umweltbezogenen Faktoren abhängig ist. Der kostenlose Kurs „In Würde zu sich stehen“ scheint mir ein hilfreiches Mittel, um für sich herauszufinden, welcher Umgang mit der eigenen Psychiatrieerfahrung für die jeweilige Person stimmig ist. Ich denke, man braucht ein gewisses Maß an Selbstakzeptanz, klarer Haltung bzgl. der eigenen psychischen Verwundungen und emotionale Stabilität, um sich unbeschadet als Psychiatrieerfahrene outen zu können. Mein Weg war es, in sicheren Räumen wie Selbsthilfegruppen zu beginnen und mich von da immer weiter in die Öffentlichkeit zu tasten. Heute denke ich, wer ein Problem mit meiner psychischen Verwundung hat, kommt als Freund*in nicht in Frage und ist somit auch kein Verlust. Berufliche Kontexte, in denen Psychiatrieerfahrene oder andere marginalisierte Gruppen stigmatisiert werden, sind kein gesundes Biotop für mich. Oft bekomme ich mit der Zeit ein Gefühl dafür, wo ich mich vor Verletzungen schützen muss und wo es sich lohnt, mich zu zeigen und damit oft auch eine Tür für andere Betroffene im Raum zu öffnen. Ich plädiere dafür, sich Schritt für Schritt Menschen und Räume zu suchen, in denen Psychiatrieerfahrung kein Problem ist. Mit diesen im Rücken kann man sich auch auf unsicherem Paket zeigen und dazu beitragen, dass die Wahrnehmung von und der Umgang mit psychisch Verwundeten sich ändert. Ich habe Respekt vor Menschen, die sich in feindlich gestimmte Umgebungen begeben, um ihr berufliches oder persönliches Ziel zu verfolgen. Ich habe einen solchen Panzer nicht, der mich das aushalten ließe. Im Umgang mit Stigmatisierung haben Selbsthilfegruppen, eine mich bedingungslos annehmende Psychologin und die Auseinandersetzung mit Trauma am meisten geholfen.

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Psychisch verwundete ¹ übernehmen wichtige gesellschaftliche Aufgaben in Leipzig
Claudia Bunzel - 29.03.2024

Literaturverzeichnis

Krisenerfahrung als Ressource

Menschen mit psychischen Verwundungen, die sich auf den oft langen und sehr mühsamen Weg der Genesung begeben, gewinnen unterwegs Selbsterkenntnis, entdecken innere Ressourcen, erlangen wertvolle Kompetenzen und jede Menge Erfahrungswissen. Dieses Potenzial für andere Menschen in psychischen Krisen nutzbar zu machen, ist ein Gewinn für beide Seiten. Wer das Glück hat, wieder genug Kraft und Stabilität zu erlangen, um sich neben der eigenen Alltagsbewältigung für andere Menschen zu engagieren, kann dies in vielen Bereichen tun. Manche, die im eigenen psychischen Tief eine Selbsthilfegruppe als haltgebende Gemeinschaft entdeckten und durch Rückmeldungen, Selbsterprobung sowie Hoffnungstragende in der Gruppe innerlich wuchsen, engagieren sich nicht selten anschließend in der Selbsthilfe. So gibt es Teilnehmende, die neue Gruppen initiieren, andere bei Gründungen begleiten, zu Lotsen werden, beratend tätig sind und offene Selbsthilfeangebote anleiten. In Leipzig gibt es ca. 150 Selbsthilfegruppen mit psychischer Thematik. Zur Beratung und Vermittlung können sich Interessierte an die Selbsthilfekontakt- und Informationsstelle der Stadt Leipzig (SKIS) wenden. Oft ist psychische Verwundung auch mit der Erfahrung verbunden, aufgrund dieser stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Um dem etwas entgegenzusetzen und das Bild von sogenannten psychisch Kranken in der Gesellschaft zu verändern, engagieren sich Betroffene gemeinsam mit anderen Akteurinnen und Akteuren in den Leipziger Vereinen Vorurteilsfrei e.V. und Irrsinnig Menschlich e.V. Sie erzählen u.a. in Leipziger Schulen oder der Universität ihre Genesungsgeschichte, treten in Dialog mit sächsischen Polizeischüler/innen oder verfassen Texte zum Thema. Fest verankert im sächsischen Psychisch-Kranken-Gesetz (SächsPsychKG) ist die Tätigkeit der Patientenfürsprecher/innen. Nicht ausschließlich, aber besonders Krisenerfahrene können bei Konflikten zwischen Patient/innen und Fachpersonal von stationären und teilstationären Einrichtungen vermitteln. Sie haben durch überstandene Krisen ihre Selbstermächtigung wiedererlangt und können nun mit hoher Sensibilität für die Situation und Empathie psychisch Verwundete unterstützen, ihre Bedürfnisse wie auch Missstände deutlich zu machen. Krisenerfahrung ist jedoch keine Voraussetzung, um als Patientenfürsprecher/in tätig zu werden. In Leipzig koordiniert die Betroffeneninitiative Durchblick e.V. im Auftrag des Gesundheitsamtes der Stadt Leipzig die Patientenfürsprecher/innen. Sie sollen laut SächsPsychKG jeder stationär untergebrachten Person kostenlos zur Verfügung stehen. All diese Tätigkeiten der psychisch Verwundeten geschehen ehrenamtlich. Doch seit 2007 gibt es für Krisenerfahrene eine Qualifizierungsmöglichkeit, die einen Weg ebnen kann, die Erfahrungsexpertise für die berufliche Entwicklung nutzbar zu machen. Im Rahmen eines EU-Projekts wurde damals das Curriculum für die einjährige Ausbildung zur „EX-IN-Genesungsbegleiter/in“ entwickelt. „EX-IN“ steht für „experienced involvement“ und bedeutet sinngemäß Einbezug von Erfahrenen bzw. Erfahrungswissen. In den damaligen Pilotstädten Bremen und Hamburg sind Genesungsbegleiter/innen schon gut etabliert. Seit der Gründung des EX-IN Sachsen e.V., der die Ausbildung seit 2020 durchführt, kommt auch in Leipzig zunehmend Bewegung in den beruflichen Einbezug von Krisenerfahrenen. So sind in der Psychiatrie der Uniklinik zwei junge Frauen tätig, die dort u.a. den Kurs „In Würde zu sich stehen“ für Patientengruppen anbieten. Beim Verbund gemeindenahe Psychiatrie gehören Genesungsbegleiterinnen zum im Januar 2023 neu entstandenen mobilen Kontakt-Beratungsteam. Sie arbeiten aktuell vorwiegend im Bereich Beratung und aufsuchende Hilfe. Für andere hat sich ein Job im Bereich Wohnen und Rehabilitation ergeben. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Beschäftigung von Genesungsbegleiter/innen im psychiatrischen Versorgungssystem eine Verbesserung für Betroffene, Fachkräfte sowie die Genesungsbeleiter/innen selbst bedeutet ². Leider ist in Sachsen die Finanzierung der Ausbildung (Kosten ca. 2 900 €) für viele eine Hürde. Es bedarf daher noch der Überzeugungsarbeit bei Jobcenter, Arbeitsagentur, Rentenversicherungen und Krankenkassen. Auch haben noch längst nicht alle Arbeitgeber den Zugewinn von Genesungsbegleiter/innen in ihrem Unternehmen bzw. in ihrer Institution erkannt. Hier ist politisches Engagement gefragt, das nicht nur aus den Reihen der Krisenerfahrenen kommen darf. Dieser bei weitem nicht vollumfassende Überblick von Bereichen, in denen psychisch Verwundete ihre Erfahrungsexpertise einbringen, zeigt, dass Krisenerfahrung nicht nur ein persönliches Problem ist, sondern für die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung vielfältig nutzbar gemacht werden kann. In Leipzig hat sich schon einiges bewegt, doch es ist noch viel Luft nach oben.

Ich habe das Recht psychisch Krank zu sein


Ein Plädoyer für mehr Respekt von Anastasia W.

AG Vorurteilsfrei - 25.09.2021

Wieso kämpfe ich Tag für Tag? ​ Wofür das alles? Es ist sinnlos. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich habe eigentlich keine Kraft. Keine Lust, auch keine Unlust, es ist mir irgendwie gleich. Also mache ich jetzt trotzdem wieder weiter wie immer oder darf ich mich auch einfach mal hängen lassen? Lustlosigkeit und Gleichgültigkeit begleiten mich Tag für Tag. Wirklich alles fühlt sich sinnlos an, auch meine eigene Daseinsberechtigung. Es ist absurd, wenn ich darüber nachdenke, aber so fühlt es sich an. Meinen mangelnden Antrieb kompensiere ich durch sinnstiftende, zielgerichtete, zweckgebundene Tätigkeiten, weil nur die mich motivieren. Wenn ich sinnvolle Tätigkeiten vorhabe, dann ist das ein guter Grund aufzustehen. Wenn ich das Altglas dabei wegbringen kann, dann ist ein guter Grund spazieren zu gehen. So ungefähr. Sinnstiftende Aufgaben zu bewältigen schützt mein Selbstwertgefühl vor dem Absaufen. Ich habe dann das Gefühl, dass ich etwas geschafft habe. In diesem ewigen Spannungsverhältnis zwischen Sinnlosigkeit und Sinnsuche komme ich so durch den Tag. Ich bleibe am Laufen. Immer auf der Suche nach der nächsten Portion Dopamin oder Serotonin. Gute Gesellschaft, Kochen, Yoga, Gärtnern, Tanzen, Schreiben, Musik und vieles mehr können mich in einen Flow versetzen oder mindestens gut ablenken. Dabei muss ich aber auch aufpassen, dass ich damit nicht übertreibe. Manchmal springe ich auf die Tätigkeit einfach nicht an, dann bringt sie mir nichts. Oder wenn ich sie zu oft mache, lässt die Wirkung womöglich nach. Und die Dosis macht das Gift. Es gab Zeiten, da musste ich ein Maß finden, um mich nicht mit einer Essstörung zugrunde zu richten. Ich musste kreativ werden und mir meinen Erfahrungsschatz mehr mühsam als müßig erarbeiten. ​ Schuldgefühle ​ Gefühle der Minderwertigkeit, Schuld und Angst vor Ablehnung begleiten mich seit meiner Kindheit. Irgendwann spürte ich ständig dieses diffuse Gefühl, nicht gut genug zu sein und besser sein zu müssen. Dafür fand ich damals noch keine Worte, zumal in meiner Familie Gefühle und Konflikte unter den Teppich gekehrt wurden. Überanpassung, Leistungsbereitschaft bis hin zu Perfektionismus waren meine frühen Antworten auf meine Gefühlswelt. In der Familie, in der Schule und überhaupt wurde ich die Fleißige, die Vernünftige, die Hilfsbereite, die Umgängliche. Am besten noch schlank und hübsch, dachte sich mein pummeliges Kind-Ich. Bloß keinen Ärger machen. Keinen Streit anfangen. Keine Ecken und Kanten zeigen. Bloß nichts tun, was mein tiefes Schuldgefühl triggern und beweisen könnte, dass ich ungenügend bin. Denn das glaubte ich ja irgendwie tief und fest. In meiner Pubertät übertrug ich den Perfektionismus auch auf mein Essverhalten und lebte mein Bedürfnis nach Ordnung, Sicherheit und Kontrolle durch die Beschäftigung mit Essen aus. Ein Teufelskreis aus Essen und Hungern zugleich. Ich funktionierte wie ein Roboter. Innerlich war ich sozial isoliert, in meiner eigenen Welt, in der Ordnung herrschte. Alles, was ich tat, überdachte und kontrollierte ich grundsätzlich im Voraus. Big Brother is watching you im eigenen Kopf. Langsam bekam ich aber auch eine Ahnung, dass ich mit meinem Essverhalten irgendwie nicht ‚normal‘ war, was mein Scham- und Schuldgefühl verstärkte. Ich lernte also, die Magersucht so zu drosseln, dass ich damit anderen nicht mehr auffiel. Und dass ich zu Hause so zielstrebig und viel für die Schule arbeitete, wurde in der Familie und Schule gelobt, vielleicht mal von Geschwistern aufs Korn genommen, in jedem Fall aber toleriert. Also gab es keinen Grund etwas daran zu ändern und ich funktionierte so weiter vor mich hin. Die Schule hatte in meiner Jugend Priorität. Meine Schwestern und Gleichaltrige tickten da natürlich anders. Von Aufblühen in der Schule konnte aber nicht die Rede sein. Ich hielt mich mit meiner Präsenz im Unterricht zurück. Hauptsache nicht negativ auffallen, das war mein Motto. Immer an die Regeln halten. Und mit möglichst guten Noten glänzen. ​ Perfektionismus ​ Der Perfektionismus funktionierte im Erwachsenenalter zunehmend schlechter und ließ mich ausgelaugt und erschöpft zurück. Bereits zu Beginn meiner Studienzeit kam die erste depressive Episode, die mich ziemlich außer Gefecht setzte. In der Anonymität der Uni fiel ich damit aber nicht auf. Es wusste ja kaum jemand, dass ich gar nicht mehr in Vollzeit studiere, dass ich zum zweiten Mal das Fach gewechselt und eine Psychotherapie angefangen habe. Aus meinem gewohnten Perfektionismus heraus tat ich alles, um möglichst weiter zu funktionieren und nicht negativ aufzufallen. Die ambulante Psychotherapie sollte mich wieder gesund und leistungsfähig machen. Eine zweite Therapie folgte einige Jahre später, weil irgendwie immer noch nicht alles in Ordnung war. Jetzt bin ich 30, mitten in einer nicht enden wollenden Berufsfindungskrise und erhole mich von einer zweiten, schweren depressiven Episode. Die war eingetreten, nachdem ich zum zweiten Mal nach wenigen Monaten sozialpädagogischer Berufstätigkeit gekündigt hatte, weil ich nicht mehr konnte. Auf der Arbeit hatte ich viel Verantwortung getragen und war von der altbekannten Angst geplagt worden, mich irgendwie schuldig zu machen. Also versuchte ich allen und allem gerecht zu werden und brach unter dem Druck zusammen. ​ Das Gefühl versagt zu haben, trieb mein Schuldgefühl in unerträgliche Höhen. Da ließ ich zum ersten Mal sowohl meine diffusen Depressionen und Ängste als auch meine neu entflammte Essstörung stationär behandeln. Das war dann der Startschuss dafür, meine Krankheitssymptome als solche zu erkennen, zu akzeptieren und mich von der Schuld an meiner eigenen Krankheit zu befreien. Das ist aber ein Prozess, der da erst begonnen hat. Meine ersten Angst- oder Panikattacken habe ich nun retrospektiv als solche erkannt. Meine dauerpräsenten Kopf- und Nackenschmerzen, die Bauchschmerzen, das Schwächegefühl, die Atembeklemmung habe ich nun als Angst- und Stresssymptome begriffen. Die Macht und Chronifizierung meiner Essstörung wurde mir bewusst. Und die Gefühle der inneren Leere und Sinnlosigkeit, mein ständiger Drang seit meiner Jugend meinem Leben mehr Sinn zu geben, all das und viel mehr begann ich endlich überhaupt erst zu beachten. ​ unsichtbare Krankheiten ​ Depressionen, Angststörungen und Essstörungen sind für die Laien oft unsichtbare Krankheiten. Dabei ist die Unsichtbarkeit auch Teil der Krankheit. Ich will sie sichtbar machen, weil Scham- und Schuldgefühl, Angst vor Ablehnung und soziale Isolation sich sonst verstärken und das alles nur noch schlimmer machen kann. Ich will diese Erkrankungen auch deshalb sichtbar machen, weil ich meine persönlichen, alltäglichen Leistungen im Umgang mit meiner depressiven und ängstlichen Gefühlswelt gewürdigt wissen will. Angststörung bedeutet nicht nur, ständig Angst zu haben, sondern eben ständig in der Konfrontation zu sein und zu entscheiden, ob ich mich der Gefahr jetzt stelle oder nicht. Ständig mit der Angst zu ringen ist ein ständiger Kampf. Die Erschöpfung von all der Anstrengung lässt mich manchmal zweifeln. Warum strenge ich mich jeden Tag so an? Warum konfrontiere ich mich immer wieder in sozialen Situationen? Warum fange ich neue Jobs und Projekte an, wenn ich gar nicht das Selbstvertrauen geschweige denn Lust darauf habe? Es ist wie Sisyphusarbeit. Ich drehe mich im Kreis. Die depressiven Empfindungen bleiben. Depression ist ein Warnsignal des Körpers, dass etwas schief läuft, und ein Hilfeschrei nach Veränderung und einem besseren Leben. Menschen mit Depressionen sind mit der existenziellen Sinnfrage des Lebens besonders konfrontiert. Was macht mein Leben wieder lebenswert? Was schenkt mir Energie? Was macht mich wieder lebendig? Was finde ich schön in der Welt? Für mich sind das ganz alltägliche Fragen, die mich dazu nötigen ein sehr bewusstes Leben zu führen. ​ Das Recht psychisch krank zu sein ​ Wo bleiben Mitgefühl und Verständnis für das, was Betroffene täglich erleben? Mitgefühl und Verständnis, das wir uns eigentlich nicht erst verdienen müssen. Wenn ich mich durch und durch so fühle, darf ich mich nicht auch einfach mal hängen lassen? Wer hat das Recht, mir zu verbieten, die Gefühle zu haben und auszudrücken, die ich eben gerade habe? Und wo bleibt auch die Anerkennung für den alltäglichen Kampf und die erlernten Kompetenzen im Umgang mit dem depressiven Dauerstress? Möglicherweise auch für die erarbeiteten Mittel und Wege, um Krisen konstruktiv zu bewältigen und das eigene Leben umzukrempeln? Vielmehr herrscht das Vorurteil und Missverständnis, dass Menschen mit Depressionen zu faul oder zu schwach oder zu unfähig zum Leben sind. Depression ist eine Erkrankung, die sich niemand aussucht. Krankheit ist ein Weg und manche Menschen müssen diesen Weg einfach gehen. Betroffene haben das Recht, so psychisch krank zu sein, wie sie nun einmal gerade sind. Psychische Erkrankungen müssen beachtet werden, bevor sie heilen können. Und Betroffene haben das Recht auf Heilung. Wir treten ja auch nicht jemandem gegen das gebrochene Bein. Das wäre zynisch. Menschen mit Depressionen sind in ihrem Selbstwertgefühl und ihrem Vertrauen in positive soziale Erfahrungen und Beziehungen ohnehin tief verletzt. Da können sie die Vorurteile und Verachtung von anderen erst recht nicht gebrauchen. Sie gehören genauso in die Gesellschaft wie alle anderen auch. Wir müssen unseren Wert nicht an unserer Funktionalität messen. Und wo bleibt vielleicht auch die Anerkennung für Menschen, die sich mit den existenziellen Fragen des Lebens und Menschseins auseinandersetzen – die über den Tellerrand und das Hamsterrad hinaus denken und leben? Vielleicht haben Sie uns etwas Wichtiges zu sagen? ​ Das ist eine verrückte Welt. Im Bildungssystem und in der Arbeitswelt werden Perfektionismus und Selbstausbeutung meistens belohnt und verstärkt, während für die Befindlichkeiten und das Wohlergehen der Menschen kein Raum ist. Die Gesellschaft verachtet psychische Erkrankungen, die sie selbst mit hervorbringt. Betroffene müssen ihre Befindlichkeiten verstecken und sich dafür schämen. Sie müssen sich am herrschenden Ideal ungebrochener Leistungsfähigkeit und vermeintlicher Stärke messen und sich minderwertig fühlen. Ich bin das alles leid. Ich will, dass Betroffenen endlich der Respekt entgegengebracht wird, der ihnen zusteht. Dass ihnen mit Achtung begegnet und zugehört wird. Dass sie mit ihrem Schmerz, ihrem Kampf, ihren Leistungen und ihrer wahren Stärke gesehen werden, damit sie sich auch selbst mehr achten können. ​ Depressionen, Angststörungen und Essstörungen sind für die Laien oft unsichtbare Krankheiten. Dabei ist die Unsichtbarkeit auch Teil der Krankheit. Ich will sie sichtbar machen, weil Scham- und Schuldgefühl, Angst vor Ablehnung und soziale Isolation sich sonst verstärken und das alles nur noch schlimmer machen kann.

Arbeit und seelische Gesundheit

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Ein Plädoyer für der Seele zumutbare Arbeit von Anastasia W.

AG Vorurteilsfrei - 18.10.2021

Qualifikation und Realität ​ Ich arbeite zwei- bis dreimal in der Woche abends in der Küche eines Pizzalieferservices mit relativ wenig Verantwortung. Im Rahmen einer Weiterbildung zur Lerntherapeutin führe ich mit einem Kind einmal pro Woche Lerntherapie durch, die ich vor- und nachbereite. Daneben gebe ich noch einem Jugendlichen Nachhilfe. Damit komme ich über die Runden. Für die WG-Miete und meinen Lebensunterhalt reicht es. Meine BaföG-Schulden aus einem langjährigen Studium kann ich damit nicht begleichen. Geld für ein sportlicheres Fahrrad oder regelmäßiges Bouldern mag ich nicht ausgeben, auch wenn es mir therapeutisch helfen könnte. Gesellige Unternehmungen und kulturelle Veranstaltungen mag ich mir manchmal auch nicht leisten, zumal sie mit meinen Abend- und Wochenenddiensten nicht immer vereinbar sind. An eine weitere kleine Weiterbildung, um beruflich mehr Fuß zu fassen, ist nicht zu denken. Ich bin 30 Jahre alt und habe Probleme mich in die Berufswelt zu integrieren, weil ich an chronischen Depressionen und einer generalisierten Angststörung leide. Das ist meine Geschichte und sicher eine von vielen. Alle paar Tage schaue ich nach Stellenanzeigen oder möglichen Arbeitgebern. Mit meinen Erfahrungen und Bedürfnissen kann ich das meiste auf dem Stellenmarkt ausschließen. Trotz oder wegen meines Masterabschlusses der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Wie das so mit Geisteswissenschaften ist, hat mich das Studium nicht automatisch für einen Beruf qualifiziert. Eine Karriere an der Uni war für mich mit meiner sozialen Angststörung nicht denkbar. Als ‚Halbqualifizierte“ in der Sozialen Arbeit bin ich zweimal gescheitert, was meine letzte schwere depressive Episode triggerte. Mit meiner Angststörung und Depression fühle ich mich einfach nicht in der Lage, hilfsbedürftigen Menschen Halt zu geben. Heute schicke ich selten und teilweise initiativ Bewerbungen raus. Das geht mir leicht von der Hand, darin bin ich geübt und es gibt mir das Gefühl, irgendwie voranzukommen. Vereinzelt kommt es zu einem Bewerbungsgespräch. Ob ich mir nach einer Zusage die Arbeit wirklich zutraue, steht auf einem anderen Blatt. Soweit bin ich bisher noch nicht gekommen. Die Lerntherapie und Nachhilfe sorgen dafür, dass ich mein Studium „verwursten“ und zum Selbstschutz anderen Menschen wahrheitsgemäß und hochtrabend über mich erzählen kann: „Ich mache eine Weiterbildung zur Lerntherapeutin.“ Das ist beruhigend. Die Tätigkeit macht mir mteilweise sogar Freude, ich werde immer routinierter und selbstsicherer und kann einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Aber leben kann ich davon allein nicht. Meine Lerntherapie aufzustocken auf so viele Stunden und Kinder, dass ich davon leben könnte, traue ich mir nicht zu. Das steht ohnehin nicht zur Debatte, weil ich mich noch weiterbilde und erst mit den Erfahrungen Allmählich mein Selbstvertrauen darin aufbaue. ​ Gezwungen zur Arbeit ​ Kann ich mit meiner Depression arbeiten? Ja. Sollte ich mit meiner Depression arbeiten? Ja, laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hilft Arbeit bei der Genesung. Jein, würde ich sagen, weil es auf die Art und den Umfang der Arbeit ankommt. Nicht jede Arbeit hilft jedem Menschen bei seiner Genesung. Ich bin unzufrieden, ich zweifle und grüble über meine Situation, weil der Gastrojob mich oft so auslaugt, dass ich den ganzen Tag danach zur Regeneration brauche. Fest steht, dass ich über diesen Midijob materiell abgesichert und automatisch krankenversichert bin, was mir mehr Geld einspart als bei einem Minijob mit zwei Diensten pro Woche. Aber ist die Arbeit das wert? Nicht zuletzt strample ich mich in der Pizzaküche ab, um meinen Selbstwert zu retten. Dadurch bin ich wenigstens ein funktionierendes Rädchen im System und ein Teil der Gemeinschaft. Das fühlt sich aber nicht heilsam an, weil die Arbeit meine emotionale Taubheit und Gleichgültigkeit eher verstärkt. Es gibt bestimmt Menschen, denen der Job durchaus passen und gefallen könnte. Mich stresst er aber ungemein. Wie im Tunnel arbeite ich die fünf Stunden oder mehr ohne Sitz- oder Essenspause durch. Die Menschen und das Miteinander auf engem Raum überfordern mich. Danach bin ich völlig ermattet und brauche Zeit, um langsam wieder zu mir zu kommen. Vor dem Bezug von Arbeitslosengeld-II- oder Hartz-IV-Leistungen graut es mir. Das habe ich schon einmal erlebt. Damals wollte ich da bloß irgendwie wieder raus aus der sogenannten Arbeitslosigkeit. Ich fühlte mich nutzlos, wertlos und schuldig, weil der Stempel „arbeitslos“ nun an mir haftete. Ich kam zu dem Schluss: ich brauche eine Erwerbstätigkeit, um mein Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl zu retten. Dafür nahm ich Kosten und Mühen auf mich. Ich zog in eine andere Stadt, wo ich die Weiterbildung absolvieren und durch die räumliche Nähe zu meiner Schwester hoffentlich Kraft tanken könnte. Die Weiterbildung und den Umzug finanzierte ich aus meinen Ersparnissen. Der Neuanfang verlangte mir nervlich viel ab und zwang mich, wieder ein Medikament einzunehmen, das mich wenigstens ruhig schlafen lässt. ​ Heilsame Aktivitäten ​ Meine unentlohnten, „ehrenamtlichen“ Tätigkeiten als Mitglied in einer Arbeitsgemeinschaft zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und als Kinderbuchrezensentin in einer Arbeitsgemeinschaft der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft helfen mir, mich wieder lebendig und als wertvollen Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Ebenso meine Aktivitäten, mit denen ich mich alleine beschäftige, wie das Schreiben, Lesen, Keyboardspielen, Kochen, Yoga, Fahrradfahren oder Gärtnern. Ich bin auf Tätigkeiten mit Sinn und Leidenschaft angewiesen, um mich selbst wieder mehr zu spüren und wiederzufinden. In meinem Alltag bin ich ständig aktiv, um mich quasi selbst zu therapieren. Im Kontakt mit anderen Menschen brauche ich einen authentischen und wertschätzenden Umgang, damit ich wieder mehr Gefühl für mich selbst und andere bekomme. Dafür besuche ich auch eine Selbsthilfegruppe. Ich gehe regelmäßig zu einem Psychiater, um medikamentös versorgt zu bleiben, und hoffe auf eine baldige Psychotherapie. ​ Erwerbstätigkeit geht über Gesundheit ​ Durchaus komme ich in der Pizzaküche in einen Flow und genieße die Gesellschaft im Team. Aber das überwiegt bei weitem nicht. Mein Pizzajob fühlt sich eher destruktiv an, nicht heilsam. Bislang komme ich aber aus dem Dilemma nicht heraus, dass ich den Job für meine materielle und vor allem für meine sozial-emotionale Existenzsicherung brauche. So groß ist die Angst, mein Gesicht zu verlieren und in Scham zu versinken, wenn ich nicht mein eigenes Geld verdiene. Sicher zweifle und grüble ich so oder so, weil ich Depressionen habe. Sicher fühle ich mich ständig gestresst und von beruflichen Anforderungen oder sonstigen vermuteten Erwartungen anderer überfordert, weil ich Depressionen habe. Aber ich weiß auch, was mir gut tut und mir wieder Lebensenergie zurückgibt. Ich bin mehr als meine Depression oder Angststörung und auf einem Heilungsweg. Mein Wunsch ist es, ausschließlich Tätigkeiten auszuüben, die zu mir passen und mir dabei helfen, mich selbst wieder zu spüren und zu heilen. Ist das zu viel verlangt? Stattdessen fühle ich mich gezwungen, einen Job zu leisten, der meine Apathie verstärkt und meine Genesung sabotiert. Habe ich das Recht auf Arbeit, also auf materielle Absicherung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Habe ich das Recht auf Genesung? Und vor allem: habe ich das Recht auf beides? In dieser Gesellschaft, so scheint mir, kann ich mich nur für eines der beiden entscheiden: entweder Arbeit, die meine Heilung verhindert, oder ‚Arbeitslosigkeit‘. Entweder das kranke System bedienen oder aus dem System rausfallen. Es sei denn, ich habe Glück bei der Arbeitssuche, der Job passt zu mir und sichert meinen Lebensunterhalt. Beziehungsweise ich habe einen passenden Job und mein Lebensunterhalt ist automatisch durch ein bedingungsloses Grundeinkommen gesichert. Davon kann ich bislang nur träumen. Arbeit und Genesung sind aber beides Grundbedürfnisse oder auch Grundrechte und sie müssen zusammen gedacht werden. Es stellt sich nicht die Frage, ob eine Arbeit mit Depression oder Angststörung möglich ist, sondern welche Arbeit individuell bei der Genesung helfen kann. Das gilt im Prinzip für alle Erkrankungen. ​ Leben in Würde ​ Die Behörden oder auch wir selbst, die das alles leider verinnerlicht haben, müssen damit aufhören, uns dazu zu zwingen, Arbeit zu leisten, die unsere Krankheit verstärkt und unsere Heilung verhindert. Die Entscheidung zwischen so einer Erwerbstätigkeit und der „Arbeitslosigkeit“ ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Stattdessen müssen die Behörden Menschen aktiv dabei helfen, Arbeit zu finden, die zur Persönlichkeit, zur aktuellen Lebenssituation, Erkrankung und Genesung passt. Eben nicht nur Arbeit, die für den Menschen auf Biegen und Brechen leistbar ist. So ein Konzept wäre nachhaltiger und gewaltfreier. Langfristig und weiter gedacht brauchen wir natürlich eine bedingungslose Grundsicherung, weil nur die unser Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl schützt. In anderen Worten unsere Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 Grundgesetz. Sie ist aber nicht unantastbar, sondern zutiefst verletzlich und wird ständig verletzt. Deswegen gibt es ja dieses Gesetz. Wenn die Existenz der Menschen, sowohl materiell als auch sozial-emotional, von Grund auf nicht gesichert ist, werden Menschen ihrer Würde beraubt. Es wird davon ausgegangen, dass wir erstmal etwas leisten müssen, um in dieser Gesellschaft existieren zu dürfen. Natürlich ist es ohnehin unser Bedürfnis und es gehört zu unserem Leben dazu, dass wir uns in eine Gemeinschaft einbringen, nützlich sein und etwas bewirken wollen. Wir wollen alle ein wichtiger Teil der Gruppe sein. Das ist zumindest mein Menschenbild. Aber müssen wir dabei nicht auch wir selbst bleiben und herausfinden, was uns Lebensenergie spendet und was wir der Welt zu geben haben? Wenn wir ständig das Gefühl haben, noch nicht richtig dazuzugehören und womöglich ausgeschlossen zu werden, stehen Stress und Angst im Vordergrund. Unser Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl ist ständig in Gefahr. Natürlich versuchen wir dann alles, um unsere Existenz zu sichern. Wir werden in ein Hamsterrad gedrängt. Wir werden vom König zum Bettler gemacht. Das ist ein gesellschaftliches Grundproblem, das Selbstwertprobleme und seelische Erkrankungen schürt. Wir brauchen von Grund auf die Sicherheit, dass wir dazugehören und geschätzt werden, so wie wir sind. Und mehr Raum, um unsere Bedürfnisse und Talente zu erkennen und in die Gemeinschaft einbringen zu können. Kindergarten, Schule, Ausbildung, Arbeit, selbst unsere Familie lehren uns leider etwas anderes. Wir werden dazu erzogen und sozialisiert, uns anzupassen, zu funktionieren und unsere Gefühle zu vernachlässigen. Und doch ist Persönlichkeitsentfaltung ein Grundrecht. Artikel 2 Grundgesetz Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (…). Absatz 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. (…).“ Doch wie sollen wir uns für eine passende Arbeit entscheiden, wenn wir immerzu gelernt haben, uns anzupassen? Der Staat müsste uns davor schützen, Arbeit zu leisten, die uns schadet, und uns ermöglichen, uns so einzubringen, wie es unserer Persönlichkeit und Bedürfnissen entspricht. Das wären tiefgreifende seelische Gesundheitsprävention und eine Umsetzung des Grundrechts auf Persönlichkeitsentfal-tung. Brauchen Menschen Hilfe dabei, ihren beruflichen Platz zu finden, weil sie zum Beispiel psychisch erkrankt sind, so müssten die Behörden intervenieren und sie darin unterstützen, die Arbeit zu finden, die ihnen beliebt. Im persönlichen Gespräch muss ein Konsens darüber hergestellt werden, wie es für die vulnerable Person beruflich weitergehen kann. Wenn wir die Persönlichkeits-entfaltung, Inklusion und seelische Gesundheit fördern und das bestehende System nicht einfach reproduzieren wollen, müssen wir mehr vom Menschen aus denken. Wenn uns das bestehende System nicht mehr behindert, sondern darin unterstützt, wir selbst zu sein, sind wir nicht mehr krank oder „behindert“. ​ Die Behörden oder auch wir selbst, die das alles leider verinnerlicht haben, müssen damit aufhören, uns dazu zu zwingen, Arbeit zu leisten, die unsere Krankheit verstärkt und unsere Heilung verhindert. Die Entscheidung zwischen so einer Erwerbstätigkeit und der „Arbeitslosigkeit“ ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera.

Redebeitrag zur Demonstration für eine verbesserte
Psychotherapeutische Versorgung im August 2023

Liebe Mitstreiter*innen, ich begrüße euch herzlich zu diesem wichtigen Anlass, zu dem wir uns heute hier versammelt haben. Mein Name ist Johnny Kollock, und ich stehe vor euch nicht nur als ein Gründungsmitglied des Vereins Vorurteilsfrei e. V., sondern auch als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis in Lutherstadt Wittenberg. In meiner Arbeit habe ich mich auf queere Kinder, Jugendliche und junge Heranwachsende spezialisiert, und ich stehe heute vor euch, um über die prekäre Situation der psychotherapeutischen Versorgungslage in Deutschland zu sprechen, insbesondere im Hinblick auf die LGBTQAI+ Community. Die Versuche, einen Psychotherapieplatz zu erhalten, gestaltet sich in unserer heutigen Zeit als äußerst hürdenreich und frustrierend. Lange Wartelisten sind für viele Therapiesuchende zur traurigen Realität geworden – leider auch in meiner eigenen Praxis in Lutherstadt Wittenberg. Tatsächlich gibt es in Wittenberg momentan acht Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen. Das mag vielleicht erst einmal nach viel klingen, ist für Zahl von annähernd 8.000 Personen bis 21 Jahre bei Weitem nicht ausreichend. Die Bedarfserhebung der Kassenärztlichen Vereinigung, die behauptet, diese Stadt sei ausreichend versorgt, muss ich vehement widerlegen. Ich sehe mich oft gezwungen, Hilfesuchende abzulehnen oder weiterzuvermitteln, da ich selbst niemanden mehr auf die Warteliste setzen kann. Dies ist eine Realität, die nicht nur mir, sondern vielen meiner Kolleg*innen deutschlandweit widerfährt. Die allgemeine Versorgungslage in der Psychotherapie ist beunruhigend – und sie wird noch verschärft, wenn wir den Blick auf die LGBTQAI+ Community richten. Junge Menschen, die sich in verschiedenen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Zugehörigkeiten abseits des Cis-gender-Heteronormativ definieren, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Laut Studien identifizieren sich 11 Prozent der befragten 14- bis 29-Jährigen in Deutschland als lesbisch, schwul, bisexuell oder trans*. Die Dunkelziffern sind höchstwahrscheinlich noch weit höher. Eine Studie der Universität Ulm verdeutlicht, dass queere Menschen drei- bis viermal häufiger unter psychischen Erkrankungen leiden als diejenigen, die sich als heterosexuell definieren. Wir sprechen von depressiven Erkrankungen, Schlafstörungen und anderen Belastungen, die ihre Lebensqualität beeinträchtigen. Queere Menschen lassen sich im Durchschnitt sechs Wochen länger krank- schreiben als cis-heterosexuelle Menschen. Besonders alarmierend sind die Zahlen für Personen mit transsexueller Identität, die unter Angststörungen leiden und sich oft unverstanden fühlen. Die schockierenden Zahlen hören hier jedoch nicht auf. Eine amerikanische Studie zeigte, dass Suizidversuche bei queeren Menschen signifikant höher sind als bei heterosexuellen Personen. Besonders bei Transpersonen sind die Zahlen erschreckend: Über die Hälfte der Transmänner, fast 42 Prozent der non-binären Transpersonen und fast 30 Prozent der Transfrauen haben Redebeitrag Johnny Kollock – Vorurteilsfrei e.V. 26.08.2023 bereits Suizidversuche unternommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Suizid die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen und jungen Heranwachsenden ist. In Lutherstadt Wittenberg und vielen anderen kleineren Städten gibt es kaum Angebote, die sich gezielt an diese vulnerable Zielgruppe richten. Unsere queeren Kinder, Jugendlichen und jungen Heranwachsenden brauchen dringend einen sicheren Raum, in dem sie Unterstützung finden können, um ein positives Selbstbild zu entwickeln. Die fehlenden Hilfsangebote sind nicht nur bedauerlich, sondern können verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit dieser jungen Menschen haben. Unser Verein Vorurteilsfrei e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, Interessen von Psychiatriebetroffenen gegenüber Politik und Psychiatrie zu vertreten. Wir setzen uns für innovative Ideen und Alternativen zur konventionellen Psychiatrie ein und schaffen Räume des Austauschs und der Kommunikation. Doch unser Einsatz allein reicht nicht aus. Wir benötigen dringend eine bessere, flächendeckende psychotherapeutische Versorgung, die auf die Bedürfnisse der Betroffenen — insbesondere marginalisierter Gruppen wie queerer Jugendlicher und junger Heranwachsender zugeschnitten ist. Es ist an der Zeit, dass wir als Gesellschaft aufstehen und Veränderungen einfordern. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit, Zugang zu angemessener psychotherapeutischer Unterstützung erhält. Wir müssen Anlaufstellen schaffen, die gezielt auf die Bedürfnisse der LGBTQAI+ Community eingehen, um Dunkelziffern zu reduzieren und jungen Menschen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie so dringend benötigen. Lasst uns heute gemeinsam ein Zeichen setzen und für eine bessere psychotherapeutische Versorgung für alle kämpfen. Lasst uns für diejenigen eintreten, die oft übersehen werden, und ihnen die Unterstützung geben, die sie verdienen. Zusammen können wir Veränderungen bewirken und eine Welt schaffen, in der niemand aufgrund seiner sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit diskriminiert oder vernachlässigt wird. Vielen Dank.

EX-IN-Ausbildung in Dresden

Ein Interview mit Claudia über ihre EX-IN-Ausbildung in Dresden - Transkript lesefreundlich vereinfacht, mit anynomisierten Publikumsbeiträgen
I: Interviewerin
C: Claudia
P: Publikumsbeiträge

I: Also wir sind erstmal sehr froh, dass du, Claudia, gekommen bist. Du machst ja eine Ausbildung zur EX-IN-Genesungsbegleiterin. Wir haben uns Interviewfragen überlegt und möchten insgesamt erfahren, einmal was und wie die Ausbildung so ist, und was für Erfahrungen du persönlich damit machst. Magst du uns in deinen Worten beschreiben, was das für eine Ausbildung ist? C: Genau, also das nennt sich ja EX-IN-Genesungsbegleiter*in, ich nehme immer gern noch das Weibliche dran. Jedenfalls EX-IN steht für Experience Involved, sprich Erfahrungen einbezogen, könnte man vielleicht so übersetzen. Mein Englisch ist jetzt auch nicht das Beste. Und die Ausbildung ist im Rahmen eines EU-Projekts 2006 entstanden, um Menschen, die Krisenerfahrungen gemacht haben, zu befähigen, andere Menschen in Krisen und darüber hinaus zu begleiten. Und die Bewegung will aber nicht nur direkt diese Peerarbeit fördern, sondern auch dass Menschen ihre Erfahrungen in Forschung und Weiterbildung von Fachpersonal einbringen. Es ist also die Idee, auch wenn das in Deutschland noch nicht so belebt ist, dass man mit dieser Weiterbildung dann in verschiedensten Bereichen in politischen Gremien wirkt, damit eben die Erfahrungsexpertise mehr eingebracht wird zu Nutzen der Betroffenen. I: Okay, also die Einsätze beruflich können ganz vielfältig sein. P: Macht ja auch Sinn. Wer schon mal selbst Erfahrungen gemacht hat, kann sie vielleicht auch leichter einbringen. C: Genau, das ist die Idee, dass Erfahrungswissen total wertvoll ist. Und dass auch das Fachpersonal, alle davon profitieren, wenn diese Menschen, die diese Erfahrungen selber gemacht haben, mit im Team sind. Oder auch als Brückenbauer zwischen Betroffenen und Fachleuten. Also es gibt da ganz viele Vorteile. I: Was hat dich dazu bewogen, die Ausbildung anzufangen, oder was war der entscheidende Grund? C: Ich habe da viele Hintergründe, aber damals war ich ja versucht, mich irgendwie beruflich zu orientieren. Ich habe nach einem Weg gesucht, irgendwie ins Berufsleben zu kommen, wollte gerne in die Peerberatung und habe dann nach Weiterbildungen geschaut. Und bin dann darauf gestoßen. Also Verschiedenes, einerseits wirklich mich nochmal mit Methoden und Dingen auseinanderzusetzen, dass ich das besser machen kann, so meine Version Peerberatung. Aber auch nochmal selber meine eigene Psychiatrieerfahrung zu reflektieren und mich zu vernetzen über den Verein, der das jetzt auch in Sachsen anbietet. Ein großes wichtiges Feld für mich ist auch Entstigmatisierung, also auch da irgendwie zu wirken. Ich habe da ganz viele Impulse, wo ich so gesehen habe: Oh, da könnte mir diese Weiterbildung helfen. Auch der Kontakt mit den anderen Betroffenen, nochmal auch den eigenen Horizont zu erweitern, so: Okay, wie erleben andere Krisen, was ist für andere hilfreich? I: Welche Voraussetzungen sind nötig, um EX-IN-Genesungsbegleiter*in zu werden? C: Also die eigene Krisenerfahrung verständlicherweise ist die Hauptvoraussetzung. Und man sollte schon auch sich reflektieren können, weil es in den Grundmodulen ja ganz viel darum geht, die eigene Erfahrung zu reflektieren. Man muss das jetzt nicht schon vorgearbeitet haben, aber so eine Offenheit dafür, aus meiner Sicht überhaupt auch eine Offenheit für Erfahrungen und Meinungen anderer. Aus meiner Perspektive auch: man muss halt diese Wochenenden überstehen. Also es ist immer von Freitag bis Sonntag schon ein ganz schönes Zeitpensum, was mich persönlich manchmal an meine Grenzen bringt. Und man muss zwei Praktika machen. Man kann auch nur wenige Stunden in der Woche machen. Wenn man jemanden findet, der das so mit einem gestaltet, ist das vollkommen okay. Aber es ist vielleicht sinnvoll, sich vorher Gedanken zu machen, das sind ja auch schon ein paar Stündchen. P: Rein organisatorisch auch, nicht nur von der Belastung her? C: Also für mich ist es vor allem organisatorisch auch. Ich mache die Weiterbildung in Dresden, da kommt dann auch noch dazu, dass ich dahinfahren und mich um die Unterkunft kümmern muss. Solche Dinge muss man sich natürlich vorher überlegen, klar. Auch wenn man jetzt berufstätig ist, am Freitag Nachmittag fängt das da an. Also sozusagen: Wie kriege ich das in mein Leben rein? P: Wie lange dauert denn die Ausbildung, also wie viele Wochenenden sind das? C: Das sind 12 Module, also 12 Wochenenden, also ein Jahr. Das Schöne an der Weiterbildung ist, es richtet sich an Menschen, die Krisen durchlebt haben, und man kann die auch jederzeit unterbrechen. Und irgendwann und auch in einer anderen Stadt oder so weitermachen. Also da geht nichts verloren sozusagen, man kann den Rahmen beliebig strecken, wenn man doch nochmal in eine Krise rutscht und in eine Klinik muss oder was auch immer. Grundsätzlich geht das. Ja und eine Voraussetzung ist noch, man muss das halt auch finanzieren oder jemanden finden, der das finanziert. P: Finanziert das das Arbeitsamt mittlerweile? C: Kommt darauf an, also die Weiterbildung, die wir jetzt machen, ist nicht AZAV-zertifiziert, wie das so schön heißt. Deswegen hat das meine Vermittlerin mir nicht bezahlt. Kommt darauf an, würde ich sagen, es ist nicht sicher. Es gibt Menschen, bei denen das klappt, über Rehamaßnahme oder Sächsische Aufbaubank, das ist jetzt meine Finanzquelle. Es gibt Wege, aber ja, die sind halt auch noch nicht so selbstverständlich. P: Was kostet die Ausbildung? C: 2.600 Euro, ohne Unterkunft. Wobei der Verein sich dann auch um die Unterkunft kümmert über Fördermittel der Aktion Mensch. Es gibt Teilnehmende, die jetzt auch schon Unterkunftskosten finanziert gekriegt haben. P: Ich habe da eine Frage: Was genau bedeutet diese Kriseerfahrung? Sind das alle möglichen Krisen oder ist das etwas mehr spezifisch? Hilft du dann Leuten mit einer spezifischen Krise im Vergleich zu deinen Erfahrungen? C: Es geht nicht um eine spezifische Krise, man braucht auch keine Diagnose oder so was, um das jetzt machen zu können. Letztlich erfährt man in dem Kurs auch ganz viel, da sind ganz verschiedene Menschen mit ganz verschiedenen Erfahrungen und es geht am Anfang in dem Umfeld auch viel um Austausch. Dadurch hat man noch ein bisschen, wir nennen es immer, Wir-Wissen, also noch ein bisschen mehr Ideen, wie Krisen aussehen können. Und wen man dann nachher begleitet, also ich für mich selber sage schon, ich möchte Menschen begleiten, bei denen es viele Parallelen gibt. Also irgendwas, was mir total fremd, ist zum Beispiel eine Psychoseerfahrung, das ist für mich etwas ganz Fremdes, habe ich nie erlebt. Ich würde mich jetzt nicht als super geeignet sehen, Menschen durch psychotische Krisen zu begleiten. Ich würde mich dann eher, glaube ich, in einem Feld bewegen, wo dann mehr parallel ist, weil ich dann die Menschen besser verstehen kann. I: Hattest du selbst schon einmal Kontakt mit einem oder einer Genesungsbegleiter*in? Und wenn ja, was konntest du davon in deine Ausbildung mitnehmen? C: Also in meinen eigenen Krisen nicht. Als ich in der Psychiatrie war, das ist zehn Jahre ungefähr her, da gab es das vielleicht in Hamburg und Bremen, in diesen Projektstädten, schon. Ich habe jetzt natürlich Kontakt durch den Verein zu welchen, die diese Weiterbildung schon gemacht haben in dem Sinne. Und es ist ein bisschen schade, dass es in Sachsen noch ganz wenige gibt, weil das auch in den Praktika natürlich von Vorteil wäre, wenn man so näher bei den anderen gucken könnte: Na, wie machen die das denn? Bei denen, die schon ein bisschen erfahrener sind in der Genesungsbegleitung. I: Inwiefern werden deine eigenen Krankheits- und Genesungserfahrungen in die Ausbildung eingebunden? C: Ja, super viel. Also es gibt wie gesagt in den Grundmodulen ganz viel, aber auch später ist immer wieder sozusagen der Ausgangspunkt neben Theoriesachen und Methoden: Wie habe ich selber Sachen erlebt, wie habe ich Genesung erlebt, was wäre irgendwie hilfreich gewesen? Und dann reden wir ja und tauschen uns darüber aus, bringen das ein, das ist ein wichtiger Baustein. I: Hast du etwas gelernt, was neu für dich war? C: Naja, auf jeden Fall schon mal dadurch, dass da einfach verschiedene Menschen mit verschiedenen Erfahrungen sind, habe ich gelernt, für wen was hilfreich war, da wäre ich gar nicht drauf gekommen, oder irgendwie so was. Ich meine, ich bin schon lange, 10 Jahre ungefähr, auch in der Selbsthilfe aktiv. Dadurch, glaube ich, habe ich auch schon einen bisschen größeren Horizont, wie unterschiedlich das sein kann. Und ich bin ja noch mittendrin, es kommt auch noch was. Aber jetzt so zumindest in dem Aufbauteil, wo es auch mehr noch um Methoden oder so geht, lerne ich zum Beispiel Patientenfürsprache. Das war so etwas, wo ich mich noch nicht so intensiv mit beschäftigt hatte und wo einiges neu war. Auch diese ganzen rechtlichen Sachen. Das PsychKG, dieses Psychiatriegesetz, da wusste ich, dass es das gibt, aber jetzt habe ich da auch mal reingeguckt. Und bestimmte Methoden, wie Reflecting Team. Also wir wenden Sachen auch an, wir machen Rollenspiele oder so und können uns da auch einfach mal erproben. Das ist schon auch hilfreich und neu zum Teil. I: Warst du in der Ausbildung mit besonderen Herausforderungen konfrontiert? C: Naja, für mich ist wirklich die besondere Herausforderung ein Wochenende nach Dresden zu fahren. Also ich habe da so meine Themen mit woanders übernachten und einfach diese Kraftanstrengung, die da schon mit drin steckt. Und ich habe auch immer tierische Ängste vor Praktika. Das sind für mich so die ganz persönlichen Herausforderungen, die einfach mit meinen Themen zu tun haben. I: Hat dir was in der Ausbildung besonders gut gefallen? C: Also mir gefällt gut einfach der Austausch oder auch dieser Raum, so sein zu können mit all seinen Eigenheiten, die jeder so mitbringt. Das hat man in normalen Ausbildungen oder Weiterbildungen nicht so, auch wenn einem gerade irgendwas zu viel ist, dass man einfach mal rausgeht. Also ich habe so die Stehangewohnheit, ich kann da auch immer rumstehen, ohne dass irgendwer schief guckt. Das ist einfach ein schöner Raum. Ja und ich schätze wirklich auch dieses praktische Tun, also Rollenspiele oder so Methoden. Reflecting Team ist eine Methode, die wir schon öfter angewandt haben. Das ist was, wo ich viel mitnehme. I: Du teilst ja auch in der Ausbildung die Krankheits- und Genesungserfahrungen anderer Menschen. Wie gehst du damit um? C: Ja, ich bin es ein bisschen gewohnt, also weil ich einfach schon lange in Selbsthilfegruppen unterwegs bin, wo das auch so ist. Da habe ich jetzt auch nicht so das Problem, dass mich das irgendwie sehr belastet oder dass ich da viel mit Abgrenzung Probleme hätte. Und das Andere ist, dass wir ganz am Anfang uns intensiv überlegt haben als Gruppe, welche Regeln wir sozusagen haben wollen. Das ist halt auch Verschwiegenheit, also dass man das Vertrauen hat, was man da erzählt in der Gruppe, dass das auch dort bleibt und nicht irgendwelche Sachen in der LVZ zu lesen sind. Insofern finde ich das total wertvoll. Also wir erzählen auch unsere sogenannte Selbsterforschungsgeschichte: Wie haben wir Krisen erlebt und wie sind wir da gut durchgekommen? Das finde ich immer einen sehr schönen Teil, die anderen da einfach mehr kennen zu lernen, mehr von ihrer Lebensgeschichte auch. I: Hast du schon eine Perspektive für die Zeit nach der Ausbildung? C: Also keine konkrete. Ich habe jetzt nicht die Stellenausschreibung, wo ich dann anfange. Ich habe viele Ideen, es hat sich auch im Laufe der Weiterbildung noch ein bisschen breiter aufgefächert. Also es wäre zwar möglich, weil der Chefarzt von der Uniklinik und auch der Herr von Sankt Georg sehr offen sind. Da werden bald Stellen entstehen. Aber in der Psychiatrie ist gerade nicht so meine Vorstellung, ich würde gerne eher in eine Kontakt- oder Beratungsstelle. Zum Beispiel Beratungsstelle Essstörung, da bin ich auch im Kontakt mit denen. Da sehe ich mich so ein bisschen in der Peerberatung. Aber auch von wegen Stigmatisierung, irgendwie in Schulen zu gehen mit Workshops. Oder auch super gerne würde ich in die Weiterbildung von Fachleuten irgendwie reinkommen. In Hamburg gibt es die trialogische Weiterbildung, das finde ich super. Da ja  überhaupt Trialog zu fördern, noch mehr Trialoge nach Dresden holen. Also ich habe da so ganz viele Ideen, aber es ist noch nichts Rundes. I: Ja, schöne Perspektiven. Würdest du jemandem dazu raten, diese Ausbildung auch zu machen? Also wem und warum? C: Ja, verschieden. Also ich würde es Menschen empfehlen, einerseits kann es ja eine Motivation sein, ein Weg, sich irgendwie beruflich zu festigen. Da sehe ich echt, dass das langsam eine Perspektive auch in Sachsen wird, also vor allen Dingen auch in Leipzig, wenn ich so einen Herr Schomerus oder so höre. Aber auch Menschen, die einfach andere ehrenamtlich oder wie auch immer begleiten wollen, die da einfach sich noch mehr Know-How aneignen wollen, noch mehr Austausch oder auch Netzwerken. Also ich meine, ich habe über Jahre Therapie mich schon sehr, sehr viel selbst reflektiert und aufgearbeitet oder sonst was. Deswegen war jetzt für mich manches nicht so neu. Aber wenn man da jetzt noch nicht so Jahre lang mit zugebracht hat, kann man da, glaube ich, auch für sich selber einfach was mitnehmen. Einfach nochmal Anstöße zu kriegen, sich so Sachen einfach nochmal anzuschauen. Lohnt sich, glaube ich, also jeder nimmt da irgendwas mit. I: Ja, das waren unsere Fragen. Hast du vielleicht selbst noch irgendwas auf dem Herzen, was dir wichtig ist? C: Was mir wichtig ist, ich meine insgesamt so und auch in der Weiterbildung oder im Kontext, wo die Weiterbildung ja auch hinzielt, ist das Miteinander-ins-Gespräch-kommen, also der Austausch. Gerade deswegen bin ich auch so ein Fan vom Trialog, davon füreinander Verständnis für die verschiedenen Perspektiven zu bekommen. Ich habe das selber manchmal durch meine Psychiatrieerfahrungen gelernt, die ‚bösen Psychiater‘ oder manchmal auch andere Gruppen dann in einen Topf zu schmeißen, aber dann zu sagen: Ah, ne, Halt, Stopp, lass uns doch mal zusammensetzen, warum agierst du denn in der Situation so, was hast du denn vielleicht für Zwänge, für was auch immer mitgebracht? Also das ist mir einfach so ein Herzensanliegen. Auch über das Thema hinaus sind das ja auch gerade irgendwie so viele Polaritäten in unserer Gesellschaft und da wieder an einen Tisch zu kommen und zu sagen: Okay, vielleicht wollen wir ja alle eigentlich das Gleiche. Und ich glaube, im Kern haben wir alle die gleichen Bedürfnisse. Sich auf Augenhöhe und wertschätzend begegnen. I: Ja, wahrscheinlich ist die Ausbildung ein schöner Raum, wo das so gelebt wird. C: Ja, würde ich schon sagen. P: Was glaubst du, wenn es die Ausbildung schon so lange gibt, woran liegt es, dass das von Profis in Kliniken oder in Institutionen so schleppend anläuft? Ich meine, 15 Jahre, wie viele Genesungsbegleiter gibt es da schon. Warum ist das so, also wenn ich den Markt anschaue nach dem Bedarf, man könnte ja denken: Ey, geil, ihr könnt doch diese ganzen Profis, diese ganzen erfahrenen Menschen viel mehr nutzen. Und und wenn man die Stellen sieht, sind das maximal Minijobs. Es gibt selten Stellen, wo man sagt: Das ist eine berufliche Perspektive. Ehrenamt kann man natürlich immer machen, aber wenn man sagt „Das soll ein etablierter Beruf werden“, dann steckt das ja wirklich in den Kinderschuhen, was ich erschreckend finde. Was glaubst du, woran liegt das und wie kann man das voranbringen? Was braucht es, damit Profis, Klinikärzte, Psychiater, Psychologen, gemeindenahe Psychiatrien das noch mehr nutzen? Also das ist jetzt auch eine Frage, die ich mir, seitdem ich das weiß, auch stelle, weil ich sage: Lohnt sich das? Mal abgesehen von der Selbsterfahrung, also lohnt sich das wirklich jetzt oder muss ich nach Hamburg oder Berlin ziehen? C: Also ich glaube, dass sich das in Leipzig jetzt echt anfängt zu lohnen wegen dem neuen Chefarzt in der Uniklinik. Also ich habe einen guten Eindruck von ihm und er möchte auf jeder Station einen Genesungsbegleiter einstellen. Es gab eine Stellenausschreibung in Sankt Georg. Also ich habe das Gefühl, da ist in Leipzig was in Bewegung. Diese Ausbildung in Dresden, die ich jetzt mache, das ist die erste in Sachsen. Hier gibt es auch noch nicht so viel. In Hamburg, in Bremen, da hat es ja angefangen. Also diese 15 Jahre beziehen sich ja eher auf diese Orte. Und dann gibt es halt noch so ein bisschen in Westdeutschland und so langsam hat sich das ja erst verteilt. Tja, ich glaube, ein Weg wäre wirklich, was ich zum Ende ja auch nochmal gesagt habe, dieses Miteinander-ins-Gespräch-kommen. Wie bringt man die Menschen dahin? Also ich habe da auch keine Antwort darauf so richtig. P: Ist man willkommen als Betroffener, ist man wirklich willkommen als Betroffener in einem Team in der Klinik? Oder ist da doch dieses: Ah, da ist der, der schon mal hier war! Also wie ist deine Erfahrung aus dem Praktikum zum Beispiel? C: Ich habe erst das erste Praktikum von den beiden gemacht. Das habe ich im Offenen Dialog e.V. gemacht. Die sind da einfach sehr offen. Die sind ja schon gemischt, da sind schon Peers mit drin. Und ich habe das bewusst so gemacht, um mir das im Leben nicht so schwer zu machen, weil ich die Befürchtung auch hatte. P: Also in der Uniklinik ist man wirklich willkommen. Ich habe da mein Praktikum gemacht, vier Wochen. Und ohne irgendwie dass die gesagt hätten „Ja, Sie waren ja schon mal hier“ oder sowas. Die waren wirklich freundlich, aber auch bestimmt. Du musstest also auch das machen, was die auch gemacht haben Also du konntest dich nicht einfach rausnehmen irgendwie. P: Ich könnte mir auch vorstellen, dass das bei vielen auch so ist, dass sie Quereinsteiger sind und die da sind die Profis. Und dann ist die Finanzierung von Stellen wahrscheinlich auch ein Problem für viele. P: Das würde mich auch interessieren. Zahlt das die Klinik oder ist das extern? Also sind das so geschaffene Stellen von irgendeinem anderen Träger oder…? C: Ne, also es gibt wohl eine gesetzliche Änderung, dass jetzt erst seit Kurzem die Kliniken auch ein Budget dafür haben sozusagen. Du weißt das genauer oder…? P: Ja, genauer nicht. Aber ich habe das auch gehört, dass das Pflicht ist, eine bestimmte Anzahl an Mitarbeitern. Das wäre nämlich jetzt meine Frage gewesen, ob diese Stellen da mit reingehören oder ob sich das jetzt nur auf Psychologen, Ärzte und Pfleger bezieht. C: Ne, also, wie ich das verstanden habe, ist es wirklich so, dass genau die EX-IN, die Experten aus Erfahrung, Teil sein müssen. P: Man bekommt eher in der Klinik einen Job als in den Einrichtungen. Ich bin im Boot. Ehrenamtlich kannst du da Peerberatung machen, aber du wirst nie einen Job kriegen als Genesungsbegleiter. P: Da ist ja schön und gut, aber natürlich schade. C: Ja. Wobei der Geschäftsführer vom Gutshof Stötteritz, der hat ja schon vor zwei Jahren, glaube ich, eine Peerberatung also auch einfach als Erfahrungsexpertin eingestellt. Mit dem hatte ich mal gesprochen, er hat gesagt: „Man muss es wollen, es geht“. Also auch als Einrichtung, das Boot wäre dann das Gleiche. Wenn man das will, dann kriegt man das auch hin. Ich bin kein Geschäftsführer von so einer Einrichtung, keine Ahnung, aber das war seine Aussage. P: Wie hoch ist in deiner Gruppe zum Beispiel der Anteil von Menschen, die sagen „Ich mache das einfach für mich“? Und wie viele wollen auch beruflich was daraus machen? Es ist ja auch immer nochmal was anderes, wenn ich das wirklich nur so für die eigene Aufarbeitung mache. Und wie stabil muss man sein oder wie lange muss die Erkrankung oder die Krise zurückliegen? Ist das egal? C: Ja, das ist egal. Also ich hatte letztens, jetzt in diesem Jahr auch, eine Zeit, die ich jetzt als Krise bezeichnen würde. Und ich bin noch nicht genesen. P: Also ist das keine Voraussetzung in dem Sinne. C: Ne, und auch dieser Begriff Krise oder Stabilität. Also, wenn man sich da bewirbt, da hat man ein Vorgespräch. Und das Konzept ist ja auch: Ich kann es unterbrechen. Also es wird ja nicht erwartet, dass man nie wieder eine Krise durchlebt. Und wie viele das jetzt machen, um beruflich einen Weg zu finden oder so, das habe ich gar nicht so im Gefühl. P: Ja, versuchen tun das die meisten, aber, was daraus wird, weiß man ja nicht. Und ob die Stellen geschaffen werden. C: Also wir haben jetzt einen in der Gruppe, der auch einen Job hat aus einem Praktikum heraus. Der hat das gestern erzählt. Man muss natürlich auch dazu sagen, von wegen Minijob, manche sagen ja auch: „Ich will maximal 10 Stunden in der Woche, Obergrenze, das reicht mir, ich habe eine EU-Rente und will ein bisschen was dazuverdienen.“ Also es ist sehr verschieden. Wir haben auch Leute, die machen eine 40-Stunden-Woche oder, weiß ich nicht, vielleicht sind es auch nur 30. Also manche wollen da auch weitergehen. P: Ich habe auch mal gelesen, dass die Polizei sich viel um Leute kümmert, die eine Krise haben, und dann nicht so gut handeln. Also Leute, die Erfahrung haben, sollen Teil davon werden, damit die Polizei nicht so handelt, dass sich die Krise verschlimmert. Ich weiß nicht, wie ist das in Deutschland mit diesem Dialog, um das zu verbessern, damit eine Krise nicht so eskaliert und das alles ein bisschen anders wird? P: Das müssten die Anwender ja aber auch ein Stück weit erstmal selbst wollen. Wer es nicht aus Überzeugung macht, sondern nur gesagt kriegt „Du musst“, denke ich, würde eine Hilfe dann auch immer schwierig sein in einer Grenzsituation. Das ist, denke ich, kein einfaches Thema. C: Ne, also ich fände es total wichtig, dass Experten aus Erfahrung in diesem ganzen Feld Ausbildung drin sind. Ausbildung von Polizei, Ausbildung von Psychiatern, von Sozialpädagogen, was weiß ich. Also diese ganzen Berufsgruppen, dass die schon, wenn sie es noch lernen, da einen anderen Blickwinkel mit reinkriegen. Da sehe ich eine Chance, wenn das mal irgendwann Realität ist. I: Also quasi alle Menschen, die mit Menschen arbeiten werden. Das ist die Vision. C: Ja, im Prinzip ja. P: Aber das ist ja ein Thema, was wir schon immer in der Gesellschaft haben. Also ich weiß, dass zum Beispiel meine Tochter, die hat eine Dyskalkulie, in der Schule massive Schwierigkeiten hatte. Lehrer sollten sich eigentlich damit auseinandersetzen. Aber das ist dann so: Ne, das gab es früher nicht und, ach, das ist alles Quatsch, die muss sich nur hinsetzen und lernen. Mit solchem Zeug musste man sich jahrelang rumschlagen als Eltern. Also die offene Kommunikation, die müssen halt alle pflegen. Das schafft aber nicht immer jeder, das ist halt leider so. C: Ja. Naja und vielleicht auch mutige Menschen mit Krisenerfahrung, die damit auch mehr in die Öffentlichkeit gehen. Also ich glaube ja, auch im Team, wo jetzt angeblich noch keine Krisenerfahrenen drin sind, da sind ja welche drin. Es kann mir keiner erzählen, dass unter den ganzen Psychiatern, Ergotherapeuten, was weiß ich, keine Krisenerfahrenen drin sind. Die sagen es halt nur nicht. P: Die Mut zum Outing ist einfach noch nicht so gesellschaftlich. P: Die, die offen damit umgehen, die nutzen das meistens ja auch schon in ihrem privaten Umfeld. Also ich sage mal, ich habe auch über 10 Jahre immer mal wieder mit depressiven Verstimmungen zu tun gehabt und mir ist irgendwann mal aufgefallen: Ich ziehe in meinem Leben auch immer irgendwie Leute an, die auch irgendwelche Probleme haben. Und dann stelle ich mich als Helfer gerne an die Seite. Vielleicht nicht immer ganz so erfolgreich, aber man probiert es halt immer, ist auch ein Stück weit Eigentherapie. P: Ich finde es schön, wie du gesagt hast, dass du die Vision hast mit den Vorträgen oder in Schulen zu gehen. Diese ganze Aufklärung von jüngeren Menschen, wie normal das ist, dass psychische Erkrankungen Teil der Gesellschaft sind so wie alle anderen Makel. Oder eben dass jeder irgendetwas hat und dass wir selbstverständlich damit umgehen können. Und dass Lehrer und Kinder einfach viel normaler mit solchen Dingen umgehen und von unserer ganzen Gemeinschaft einfach viel eher konfrontiert werden und nicht erst selbst betroffen sind und sagen: Oh, boah, was ist jetzt los hier? Was ist jetzt mit mir los? Sondern dass sie davon gehört haben durch Menschen, die in Schulen gehen und so. Das finde ich echt eine super geile Idee. C: Naja, das gibt es ja im Prinzip auch schon, also Irrsinnig menschlich. Es gibt diesen Verein, der in Schulen geht und da ist auch immer ein Erfahrener dabei und ein anderer, die so etwas machen. Aber es bräuchte einfach noch mehr. P: Ja, genau, das ist ja so ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das ist ja nicht Standard, dass jede Klasse solche Vorträge hat. Da muss man sich als Schule ja auch darum bewerben oder die Leute reinholen. Das ist noch nicht die breite Masse. I: Ja. Aber, wie du sagst, wir brauchen das Bewusstsein, dass Krisen und Krankheit normal sind. Dass jeder mal betroffen sein kann. P: Und jeder ist ja auch betroffen. P: Wir schaffen es doch seit Jahrzehnten auch in unserer Gesellschaft, egal ob im Berufsleben oder nicht, dass diese Krisen ja auch immer mehr betreffen, weil wir uns ja im Alltag teilweise auch ziemlich überfordern. Also gerade mit den ganzen neuen Medien, die wir seit 30 Jahren haben. Das ist alles so schnellebig, dass unser Gehirn da ja teilweise nur noch hinterherstolpert. Also das kann ganz schnell immer jeden betreffen. Ich oder mein Kopf hat auch irgendwann mal ausgesetzt. Ich war im mittleren Management und dann habe ich gesagt: Okay, dass ein Kopf sowas verursachen kann, erstaunlich. Aber der kriegt dann halt sein Leben nicht mehr auf die Reihe. Und das geht so, fast wie Schalter umlegen. Wir haben Handlungsbedarf. P: Ganz kurz noch diese Geschichte mit der Wohnungssache. Also das ist so die Überlegung: Wenn man es nicht finanziert kriegt und man hat da noch, wie du sagtest, den Verein, der einem hilft. Kannst du da ganz kurz noch etwas zu sagen? C: Ah, die Unterkunftskosten meinst du. Die Ausbildung, die ich mache, wird aktuell ja vom EX-IN Sachsen ausgeführt. Und die haben Fördermittel von Aktion Mensch, von denen sie uns Teilnehmern Unterkunftskosten finanzieren können. Also das müssen sie immer wieder neu beantragen und es ist immer wieder die Frage, ob es für die nächsten Module auch wieder finanziert wird. Mehr weiß ich dazu auch nicht. Ich habe bisher noch nichts gekriegt, ich habe denen meine Rechnungen geschickt. P: Okay, also muss man doch in der Lage sein, das erstmal vorzufinanzieren. P: Wir sind im gleichen Kurs. Ich bekomme diesen Lehrgang bezahlt. Aber die Übernachtungen muss ich auch selber bezahlen. Aber die bezahlen so ungefähr die Hälfte von den Übernachtungen, ich habe schon die Hälfte wieder zurückgekriegt vom EX-IN. Das hat geklappt. P: Was hast du denn für fachliche Vorqualifikationen? Benötigt man da welche oder ist das eher wirklich Quereinsteigen? C: Man braucht keine fachlichen Qualifikationen. Also es geht ja gerade darum, dass eben diese Erfahrung deine Kompetenz ist sozusagen, und das reflektiert zu haben. Wir haben verschiedenste berufliche Hintergründe in der Gruppe. P: Und diese Weiterbildung bezieht sich jetzt auf Erwachsene mit psychischen Erkrankungen? Wie schaut es mit Kindern und Jugendlichen aus oder mit älteren Menschen, die in einer Gerontopsychiatrie sind zum Beispiel? C: Also ich glaube, Kinder und Jugendliche ist nochmal ein eigenes Feld. Ich glaube, das ist nicht so fest umrissen. Aber ich würde jetzt mal sagen, es geht schon um die Erwachsenen. In der Gerontopsychiatrie, warum nicht? Also fühlt sich jetzt für einen Achtzigjährigen eine Depression anders an als für einen Vierzigjährigen? Keine Ahnung. Also es spricht nichts dagegen, wenn es eine Stelle in der Geronto gäbe. Kinder und Jugendliche finde ich halt speziell, weil man ja nicht mehr im engeren Sinne ein Peer ist. Also gut, man kann sagen: Okay, ich habe selber als Kind oder Jugendliche psychische Krisen erlebt. Das wäre auch nochmal eine neue Tür, glaube ich. Also da habe ich noch nichts gehört, dass der EX-IN da in dem Bereich arbeitet. Wäre aber auch gut. C: Ich kann ja hier noch Flyer hinlegen. Da kann man dann auch mal auf der Homepage gucken. I: Vielen Dank. C: Gerne, danke, dass ihr alle da wart.

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